17.07.2018
Die Länder – nah dran und mit neuer Macht dabei?
Über den Bedeutungszuwachs der Länder in der Gesundheitspolitik
Maximilian Gerade
Wenn selbst das etwas verstaubte und wertkonservative „Deutsche Ärzteblatt“ jüngst in einem Editorial konstatiert, dass der gesundheitspolitische Einfluss der Länder in der ersten Liga angekommen sei, reibt sich der gesundheitspolitische Beobachter in Berlin verwundert die Augen. Die Länder hatte bisher keiner ernsthaft auf der Agenda. Das ändert sich.
Es war doch – bis vor gut sieben Jahren – immer dasselbe Spiel: Man schimpfte auf die zu niedrige Investitionsquote der Länder für die Krankenhäuser, und diese ließen es ergeben über sich ergehen. Ansonsten waren die Länder mit sich selbst und ihren Krankenhäusern beschäftigt – mehr war von ihnen nicht zu hören. Gesetze wurden vom Bund so ausgestaltet, dass eine Zustimmungspflicht des Bundesrates möglichst vermieden wurde; der Bund diktierte über das SGB V. Es war dann alleinige Aufgabe der Selbstverwaltung, das Gewollte – mehr oder weniger – umzusetzen.
Obwohl es keiner gewollt hatte, lag aber gerade in der größten Reform des Gesundheitswesens der letzten 20 Jahre, der Neuausrichtung der Krankenhausvergütung auf DRGs, von der man sich so viel für die Effizienz und Effektivität des stationären Sektors versprochen hatte, der Keim für eine neue Ausrichtung mit bis dahin ungeahnten Folgen: Das alte Gleichgewicht von Ökonomie und Gemeinwohlorientierung der Medizin verlagerte sich im Krankenhauswesen immer stärker hin zu einem finanzorientierten Primat. Dadurch wurden bisher einigermaßen funktionierende, ungeschriebene Gesetze zunehmend verletzt. Die Abgrenzung zwischen den Sektoren wurde größer, der Leistungsklau zwischen den Akteuren weitete sich aus. Innere Abläufe wurden soweit durchrationalisiert, bis unproduktive Bereiche wie die Pflege so runtergefahren wurden, dass es dann öffentlich „quietschte“. Und das war weit über den Krankenhaussektor zu spüren – es wurde ein öffentliches Thema.
Hilflosigkeit bei den KVen – Fehlanreize stationär und ambulant
Hinzu kam, dass es in ländlichen, aber auch in strukturschwachen städtischen Gebieten zunehmend schwierig wurde, in bestimmten Fachdisziplinen überhaupt noch eine vertragsärztliche Versorgung zu erhalten, somit also die bisherigen Spielregeln der vertragsärztlichen Versorgung schlichtweg nicht mehr funktionierten. Die KVen reagierten mit Hilflosigkeit auf die für die Bürger spürbaren Auswirkungen im ambulanten Bereich, wie Umgang mit Wartezeiten und Aufnahmestopps, die zuerst verniedlicht oder geleugnet, dann höheren Mächten (geizigen Krankenkassen, Morbidität, veränderten Patientenverhalten) zugeschoben wurden, was auch nicht zur Lösung beitrug.
Da Gesundheitsversorgung zuerst lokal oder regional erbracht wird und von der Bevölkerung als Teil der selbstverständlichen Daseinsvorsorge vor Ort angesehen wird, von der man erwartet, dass sie funktioniert, werden Problemlösungen genau auf dieser regionalen Ebene von den Bürgern abgefordert. Kommunal- und Landespolitiker standen jedoch macht- und zuständigkeitslos vor diesen Herausforderungen. Versuchen Sie doch einmal, die primäre Zuständigkeit für die fehlende vertragsärztliche Versorgung als Problem des Sicherstellungsauftrags einer KV zu erklären, wobei (gefühlt) 90 Prozent der Bevölkerung nicht einmal wissen, was das ist. Ebenso unglaubwürdig erscheint, die dramatische Schilderung über die Lage der Pflege in den Krankenhäusern als Ergebnis einer fehlgeleiteten DRG-Entwicklung zu erläutern, für die man als Landespolitiker nun wirklich nichts kann. Das System, gerade im Krankenhauswesen, aber auch zunehmend in der ambulanten Versorgung, rief nach Lösungen. Verantwortung zugeschoben zu bekommen und nicht reagieren zu können, ist nicht gerade eine politische Traumkonstellation für die von Wahlen abhängigen Politiker.
Ergebnis war, dass Krankenhäuser und vertragsärztliche Versorgung unter Fehlanreizen und mangelnder Zusammenarbeit litten, die bisher regelnde Selbstverwaltung nur noch schleppend oder gar nicht funktionierte (Beispiele: Zentren-Regelungen oder Zu- und Abschläge für gute und schlechte Qualität), die Probleme vor Ort bestehen blieben. Aber genau auf dieser Ebene wurde von den Bürgern eine Lösung erwartet. Von daher verwundert es nicht, dass die Länder seit einiger Zeit mit ihrer bisherigen Rolle im Gesundheitswesen unzufrieden sind. Die alten Wege auf der Bundesebene – Gesetzesauftrag an die Selbstverwaltung, Problem erledigt – funktionieren eben nicht mehr.
Regionale Steuerung verhindert Konflikte
Hinzu kam die wachsende Einsicht, dass die streng separierten Sektoren (pflegerische, ambulante, stationäre und rehabilitative Versorgung) schon intern ihre Probleme nicht angehen können, geschweige dann endlich dazu beitragen, sektorenübergreifende Konzepte umzusetzen. Das Scheitern der Ambulanten Spezialfachärztlichen Versorgung ist nur ein Beispiel dafür. Aber genau in dieser Verzahnung liegt die größte Herausforderung für die Zukunft einer Gesundheitsversorgung, die sich immer mehr an chronischen Erkrankungen orientieren muss. Und diese Schnittstellenüberwindung ist ohne maßgebliche Einbeziehung der Länder mit ihren verfassungsgemäßen Rechten in der Krankenhausplanung nicht anzugehen. Ohne regionale Steuerung, ohne stärkere Eingriffe in die bisher hoch gelobte Autonomie der Krankenhäuser und KVen perpetuieren und verschlimmern sich die Konflikte zunehmend. Bis vor ca. sieben Jahren hatten die Länder lange gezögert, ob sie dafür eine aktive Rolle einnehmen sollten, wo sie sich doch gerade im Krankenhauswesen durch Rückzug auf Rahmenplanung und Investitionspauschalen aus der Gestaltung mehr oder weniger herausgezogen hatten.
Wende mit GKV-Versorgungsstrukturgesetz
Erst seit 2012 drehte sich der Wind in kleinen Schritten: Im GKV-Versorgungsstrukturgesetz wurden erstmals Kompetenzen der Länder anerkannt und – wenn auch erst in Spuren – gesetzgeberisch festgehalten. Gemeint sind beispielsweise die Abstimmungsgremien nach § 90a SGB V auf Landesebene, die Beteiligung nach § 90 SGB V an den Landesausschüssen KVen / Krankenkassen oder die Mitberatung an der Bedarfsplanung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA).
Dass diese Brotkrumen jedoch nicht ausreichten, zeigte sich bei den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag 2013, bei denen die Länder mit ihrer bisherigen „Katzentischrolle“ nicht zufrieden waren und sich auch im Bundesgesundheitsministerium (BMG) die Erkenntnis durchsetzte, dass die zunehmenden Fehlentwicklungen in den Krankenhäusern nicht ohne Beteiligung der Länder zurückgefahren werden können. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Krankenhausreform“ mit dem Ergebnis des KHSG (Krankenhausstrukturgesetz), die Pflegekommission, die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Pflegeversicherungsreform“ als Verabredung aus dem damaligen Koalitionsvertrag führten dazu, dass die Länder zahlreiche, grundsätzliche und regionale Steuerungsoptionen erhielten. Stichworte wie:
- die Verankerung von Qualität als neuem Planungskriterium im Krankenhaus,
- die Einführung von planungsrelevanten Qualitätsindikatoren,
- die Neuausrichtung von Investitionen über einen Strukturfonds, der Veränderungen in der Krankenhauslandschaft anschieben soll,
- die Ausweitung der Beteiligung der Länder im G-BA oder auch
- die Möglichkeit zu Modellkommunen in der Steuerung im SGB XI
waren erste greifbare Ansätze, die die Rolle der Länder nicht unbedeutend aufwerteten. Nicht genügend bedacht wurde jedoch, dass ein Großteil dieser Veränderungen durch den langen Prozess der Selbstverwaltung gehen musste und von daher bis heute nur zu einem kleinen Teil effektiv umgesetzt werden konnte.
Neue Ansätze
Zusätzlich kam ein Vorzeichenwechsel in den Ländern selber. Statt des bisherigen Rückzugs aus der gestalterischen Rolle im Krankenhaussektor wird auch gesetzgeberisch seit einiger Zeit in die andere Richtung umgesteuert: Qualitätsvorgaben wurden als Bedingung für die Aufnahme oder das Verbleiben im Krankenhausplan von den Ländern eingeführt. Länder wie Nordrhein-Westfalen, die sich gerade auf die Investitionspauschalfinanzierung zurückgezogen haben, führten wieder die Möglichkeit ein, steuernd über einzelne Investitionen den Krankenhaussektor zu gestalten. Und selbst Personalvorgaben für bestimmte Bereiche sind nicht mehr die Domäne des G-BA, sondern werden zunehmend von den Ländern eingebracht. All dies sind Ansätze in eine neue Richtung, aber primär auf den Krankenhaussektor beschränkt. Das Problem, das eine Gesamtsteuerung des Gesundheitswesens aus sich heraus nicht mehr funktionierte, wurde damit noch nicht angegangen. Insbesondere die in den letzten Jahren immer stärker auftretenden Disparitäten der ambulanten Sicherstellung sowie das Chaos in den Notaufnahmen waren nicht nur ein professionelles Problem, sondern auch eine öffentliche Debatte wert.
Weitere Stärkung der Länderrechte als Konsequenz
Also wurde ein neuer Anlauf für eine Stärkung der Länderrechte in den Koalitionsverhandlungen 2018 erfolgreich verankert, so da wären:
- Umsteuerung in eine sektorenübergreifende Versorgung, orientiert an den Behandlungsbedürfnissen der Patienten und nicht an den Egoismen der einzelnen Sektoren,
- mehr Rechte und Eingriffsmöglichkeiten in die Ausgestaltung der vertragsärztlichen Versorgung für die Länder,
- Neuordnung der Notfallversorgung durch Zusammenführung von KV, Krankenhaus und Rettungsdienst sowie
- erweiterte Rechte der Länder im G-BA,
- Mitsprache bei der Entwicklung einer neuen Honorarordnung.
Diese aktuellen Verabredungen sollen im dritten Anlauf dazu führen, dass Länder nicht nur die Probleme beklagen, sondern sie auch gestalten können. Auf jeden Fall kommt man an der erstarkten Position der Länder bei den entscheidenden Debatten zur künftigen Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung nicht mehr herum.
Nicht nur klagen, sondern gestalten
Irgendwo zwischen dem Wunsch auf Bedeutung und Einsicht in die Notwendigkeit – die Länder übernehmen selbstständig regulative Aufgaben und wollen bzw. lassen sich in die Ausprägung, insbesondere des regionalen Gesundheitswesens, zunehmend mit Verantwortung einbinden. Aufgrund der offensichtlichen fehlenden Einigungsfähigkeit zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern auf Bundesebene und teilweise auch vor Ort nehmen die Länder mehr und mehr die Rolle einer dritten Kraft in der Gestaltung des Gesundheitswesens ein, mit der sie glaubhaft ihre Neutralität und Legitimität in die Waagschale legen können.
Es zeigt sich, dass die Länder diesen Bedeutungszuwachs sehr selbstbewusst annehmen, ohne aber ihre regionalen Interessen ganz zu vergessen. Hier zu einem neuen ausgewogenen Verhältnis zwischen notwendiger bundesweiter Einheitlichkeit und regionaler Spezifität zu kommen, ist eine Herausforderung, die sicherlich nicht ohne Probleme zu lösen sein wird. Man kann gespannt sein, was diese Machtverschiebung hin zu den Ländern im sonst so starren deutschen Gesundheitswesen bewegt. Zuerst einmal liegt es an den Ländern, ob sie nicht nur die Lippen spitzen, sondern auch pfeifen.
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