Der Koalitionsvertrag unter dem Brennglas

Thomas Bublitz, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Privatkliniken (BDPK)

Selbstbewusst und clever, so sind sie die deutschen Bundesbürger. Zugespitzt bedeutet das: 80 Millionen sind bessere Fußballbundestrainer und natürlich auch bessere Politiker. Politikerschelte und Kommentare zu dem, was man hätte ganz anders machen müssen, sind in privaten wie öffentlichen Diskussionen auf der Tagesordnung.

Auch wenn fünf Monate nach der Bundestagswahl die Regierungsbildung noch immer nicht beendet ist, der Entwurf des Koalitionsvertrages liegt vor und mit ihm gute gesundheitspolitische Positionen, die gut für eine Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens geeignet sind.

Positiv aus dem Kapitel Gesundheit sind die:

  • konsequente Ausrichtung der Patientenversorgung an deren medizinisch-pflegerischen Bedarf,
  • Verbesserungen der sektorenübergreifenden Versorgung,
  • Verbesserung der Notfallversorgung zwischen Vertragsärzten und Krankenhäusern,
  • angekündigte Investitionsoffensive für die Digitalisierung der Krankenhäuser,
  • volle Refinanzierung der Tarifrate,
  • rehabilitative Versorgung der pflegenden Angehörigen zu verbessern und den Ärzten die Direktverordnung von Rehabilitationsleistungen zu erlauben.

Doch reicht das aus? Was ist mit der wachsenden Zahl von Pflege abhängigen Menschen? Der bereits gesetzlich verankerte Grundsatz „Reha vor Pflege“ darf nicht ins Abseits geraten. Deshalb ist die Direktverordnung für alle Patienten der Krankenkassen notwendig.

Auch die angekündigten Verbesserungen in der Pflege sind sinnvoll und für eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung notwendig. Zweifel gibt es allerdings, ob dieses Ziel mit den ausgewählten strukturkonservativen Instrumenten tatsächlich erreicht wird.

 

Personaluntergrenzen und Selbstkostendeckungsprinzip

Mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege wurde bereits in der letzten Legislaturperiode begonnen: Mit der gesetzlichen Regelung zur Festlegung einer verbindlichen Personaluntergrenze wollte man die Weichen neu stellen. Diese Regelung dient nun als Blaupause für verbindliche Personaluntergrenzen in allen bettenführenden Abteilungen eines Krankenhauses. Flankiert von der Absicht der Koalitionäre, die Pflegepersonalkosten aus der DRG-Vergütung herauszulösen und über einen krankenhausindividuellen Zuschlag separat zu vergüten. Zusammen mit der Refinanzierung der vollen Tarifsteigerungsrate scheint alles getan, um die Situation im Bereich der Pflege zu verbessern. Viele Krankenhausträger begrüßen diese Regelungen. Doch möglicherweise ist die Lage etwas komplizierter als angenommen.

 

Der Fachkräftemangel lässt sich nicht verbieten

Dass wir in Deutschland auf einen deutlich spürbaren Fachkräftemangel zu steuern, ist unbestritten. Er zeigt sich nicht nur in der Pflege, sondern in allen Bereichen unseres wirtschaftlichen Lebens. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Der Gesundheitssektor wird künftig noch stärker mit anderen Branchen um die immer weniger jüngeren Auszubildenden konkurrieren. Die Zeiten, in denen die Krankenhäuser aus hunderten qualifizierten Bewerbern die Besten aussuchen konnten, sind vorbei, und sie kommen vermutlich auch nicht wieder. Auch die zusätzlich rekrutierten ausländischen Pflegekräfte helfen den Krankenhäusern nicht viel weiter, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. An der Tatsache, dass Pflegekräfte fehlen, ändert das nichts.

Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird nun per Gesetz die Lösung verordnet:

  • Personaluntergrenzen für die Pflege in den pflegesensitiven Krankenhausabteilungen ab 1.1.2019
  • verbindliche Personaluntergrenzen für psychiatrische und psychosomatische Krankenhausabteilungen und Krankenhäusern ab 1.1.2020
  • Sofortprogramm für 8.000 zusätzliche Pflegekräfte in Pflegeheimen (Entwurf KOAV).
  • Verbindliche Personalbemessungsinstrumente für Pflegeheime (Entwurf KOAV).
  • Festlegung von Personaluntergrenzen für alle bettenführenden Abteilungen in Akutkrankenhäusern (Entwurf KOAV).

Die Bundesregierung ist offensichtlich davon überzeugt, den drohenden Fachkräftemangel in der Pflege durch eine umfassende Personalvorgabe lösen zu können. Dies wird nicht funktionieren, weil die Fachkräfte nicht oder nicht so schnell verfügbar sein werden. Unabhängig von der Frage, ob mehr Jugendliche für den Beruf in der Pflege begeistert werden können, müssen in den Krankenpflegeschulen erst zusätzliche Ausbildungskapazitäten geschaffen werden. Zusammen mit der Ausbildungszeit werden dafür mindestens drei bis vier Jahre ins Land gehen. Schnelle Ergebnisse können demnach nicht erwartet werden.

 

Personaluntergrenzen führen zur Schließung von Krankenhausbetten und Pflegeplätzen

Die bereits gesetzlich beschlossenen Personaluntergrenzen in den sogenannten pflegesensitiven Bereichen werden bei Nichteinhaltung mit Vergütungsabschlägen sanktioniert. Es ist fraglich, ob Vergütungsabschläge ein sinnvolles Instrument zur Einhaltung vor Personalvorgaben sind. Sie implizieren nämlich im Umkehrschluss: Die Erbringung von Krankenhausleistungen geht auch billiger, wenn auch mit weniger Personal. Dieses Vorgehen erinnert stark an die Absicht des Gesetzgebers bei der qualitätsorientierten Vergütung: Wenn die Qualität nicht besonders gut ist, wird sie halt günstiger abgerechnet. Die möglichen haftungsrechtlichen Konsequenzen müssen Krankenhäuser für sich verantworten. Denn bei jedem Gesundheitsschaden im Krankenhaus dürfte zukünftig die Frage ausschlaggebend sein, ob gegen Personaluntergrenzen verstoßen wurde. Egal, ob ursächlich oder nicht, das Krankenhaus gerät in eine schwierige Lage der Beweisführung. Vorsorglich werden die Krankenhausverantwortlichen bei fehlendem Pflegepersonal Krankenhausbetten schließen.

Ist diese Entwicklung mit einer patientenorientierten Gesundheitsversorgung noch vereinbar, so wie es der vorliegende Koalitionsvertrag als Leitbild formuliert? Entsprechende Erfahrungen haben wir bereits gemacht: in der Neonatologie oder bei der Schließung der Abteilung für Kinderonkologie an der Berliner Charitè.

 

Argumente gegen Personaluntergrenzen

Die Krankenkassen, aber vermutlich auch die Aufsichtsbehörden und die Personalräte werden hohes Interesse an der Überprüfung der Einhaltung der Personaluntergrenzen haben. Die Folgen: mehr MDK-Kontrollen, ausufernde Streitigkeiten über deren Ergebnisse und über die Höhe des Rechnungsbetrages als je zuvor. Die Mitarbeiter auf den Stationen werden mehr Bürokratie durch mehr Dokumentation und Rechtfertigung erleben. Das heißt leider nicht mehr Zeit für den Patienten.

Zudem ist zu bezweifeln, dass starre und abteilungsbezogene Personaluntergrenzen die Anforderungen an moderne Patientenversorgung erfüllen können. Wegen der Multimorbidität der Patienten erfolgt die medizinische Versorgung zunehmend interdisziplinär und abteilungsübergreifend. Außerdem bestehen viele neue Berufsbilder, die in die Patientenversorgung eingebunden sind, die sich dem klassischen Pflege- und Arztberuf nicht eindeutig zuordnen lassen. Sind die Essensausgabe und der Patiententransport zum Röntgen der Pflege zuzuordnen oder entscheidet allein das Berufsexamen der entsprechenden Person, die die Tätigkeit ausübt darüber? Gehören die Operationstechnischen Assistenten oder die Physician Assistants zur Pflege? Das zeigt, dass der Bedarf an pflegerischem Personal sich nicht zentral für alle Krankenhäuser einheitlich definieren lässt, sondern er sich unter anderem aus den Versorgungsbedürfnissen der Patienten des einzelnen Krankenhauses ergibt. Krankenhausbehandlung ist und bleibt Teamarbeit, bei der die Pflege eine wichtiger, aber eben nicht der alleinige Erfolgsparameter ist.

Besser als Personaluntergrenzen wäre es, den Personalbedarf an pflegerelevanten Qualitätsindikatoren (Häufigkeit Dekubitus, nosokomiale Infektionen, Komplikationsraten) zu bemessen. Dazu müssen auch Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit konsequent erhoben und veröffentlicht werden. Das schafft die Grundlage dafür, Pflegepersonal sinnvoll einzusetzen. Eine solche Herangehensweise wäre weitaus konstruktiver und sinnvoller, als sich mit dem Zählen von Köpfen zu beschäftigen.

 

DRG-System vor dem Aus?

Rückwärtsgewandt ist die Entscheidung, das DRG-System bei den Personalkosten für Pflege außer Kraft zu setzen. Damit werden Pflegekräfte willkürlich aus der organisatorischen Einheit Krankenhaus gehoben. Das heißt auch, dass Krankenhäuser für ca. ein Drittel ihrer Personalkosten, die sie für die Pflege aufwenden, zur Selbstkostendeckung zurückkehren. Bestehende Organisationsstrukturen werden konserviert, Arbeitsteilung verhindert und Anreize für organisatorische Weiterentwicklung verschwinden. Von dieser Regelung würden vor allem die Krankenhäuser profitieren, die hohe Personalkosten haben ohne wirtschaftlich oder besonders gut in der Pflege sein zu müssen. Der durchschnittlich kalkulierte Anteil über alle Krankenhäuser würde aus den DRG herausgerechnet und die hausindividuellen Personalkosten auf Nachweis erstattet. Dieser Regelung fehlt jede Steuerungsintelligenz.

Um eine Vision der medizinischen Versorgung der Zukunft zu entwickeln, benötigen Krankenhäuser organisatorische und finanzielle Hilfestellungen. Eine Expertenkommission auf Bundesebene sollte Vorschläge zur Organisation des Krankenhauses der Zukunft und für deren Anwendung in der Praxis erarbeiten. Handlungsbedarf gibt es vor allem bei konkreten Ansätzen zur Verbesserung der Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen und dem Einsatz der Digitalisierung für eine bessere Patientenversorgung bei Diagnostik und leitliniengerechter Behandlung.


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