Der Entwurf eines Notfallgesetzes: nur Bruchstück einer Reform

Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a.D.

Der kürzlich vorgelegte Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung (NotfallG) ist der dritte Versuch nach 2019 und 2020 zur Neuformulierung der Notfallgesetzgebung. Während die beiden Vorläufer mutige sektorübergreifende Ansätze beinhalteten, kommt der neue Entwurf mit deutlich geringerer systemischer Veränderungsbereitschaft daher. Nachvollziehbar, wenn man sich das Scheitern der ersten Vorstellungen vergegenwärtigt. Dafür sollte der dritte Versuch aber sitzen.

Aber warum werden die Schrittfehler, die in den Eckpunkten zur Notfallreform vom Januar identifiziert und diskutiert wurden, nicht behoben? Zwar ist eine gewisse Sturheit keine unübliche Praxis in der ministerialen Gesetzesmaschine. Wenn aber dadurch der Gesetzeszweck gefährdet ist, sollte man bereit sein, über den eigenen Schatten zu springen und nachzusteuern.

 

Nachsteuerung erforderlich und möglich

Hierzu einige Anregungen:

 

Erstens: 

Vor allem das Beharren auf der Trennung zwischen der Notfallversorgung durch KVen und Krankenhäusern einerseits und der des Rettungsdienstes anderseits bleibt ein gravierender Schwachpunkt. Für ein Gelingen einer sektorenübergreifenden Notfallversorgung ist eine veränderte Funktion des Rettungsdiensts unverzichtbar. Dessen Einbindung als Leistungsträger der gesundheitlichen Versorgung ins SGB V ist unstrittig. Nicht nur die eigene Regierungskommission sieht die Notwendigkeit und Möglichkeit, den Rettungsdienst steuernd und bahnend zu berücksichtigen und so wesentlich zu einer Reduzierung der Krankenhauseinweisungen beizutragen. Es sei daran erinnert, dass – fachlich gesichert – 20 bis 30 Prozent der rettungsdienstlichen Transporte ins Krankenhaus medizinisch nicht notwendig sind, aber aus ökonomischen Gründen oder mangels Befugnissen zur Rücküberweisung in den ambulanten Bereich beziehungsweise nicht gewährter Entscheidungskompetenz des rettungsdienstlichen Fachpersonals gegen besseres Wissen ins Krankenhaus transportiert werden.
Es mag aus taktischen Gründen nachvollziehbar sein, dass man sich in der Gesetzgebung zuerst auf die „klassischen“ Institutionen des Gesundheitswesens konzentriert und sich erst in einem zweiten Schritt mit der Phalanx der Innenbehörden, die für den Rettungsdienst zuständig sind, anlegen will. So erhofft man sich wohl im BMG weniger oder besser dosierten Widerspruch, wenn man die Einzelgesetze nach den betroffenen Institutionen aufteilt. Aber ohne eine Gesamtschau der geplanten Reform, gerne in zwei parallel vorgelegten Gesetzentwürfen, setzt sich das BMG dem Vorwurf aus, Stückwerk vorgelegt zu haben. Und wer weiß denn heute, ob Teil II überhaupt (noch) kommt?

 

Zweitens: 

Hätte man noch glauben können, dass die Frage einer Notfallbehandlung von Krankenhäusern ohne integrierte Notfallzentren (INZ) in den Eckpunkten nur vergessen wurde, wird dies durch den Referentenentwurf zur traurigen Wahrheit. Das Gesetz sieht kein Gebot zur ausschließlichen Notfallbehandlung an INZ-Standorten vor. Wie Krankenhäuser ohne INZ in ein abgestimmtes System der Notfallversorgung eingeordnet werden sollen, bleibt offen. Auch ein finanzieller Malus wird nicht eingeführt. Wird das Gesetz so umgesetzt, kann der Hilfesuchende künftig den Einstieg in die Notfallversorgung über vier Wege vornehmen:

  • über die Akutleitstelle nach 116117
  • über den Rettungsdienst 112,
  • durch Aufsuchen eines Krankenhauses mit INZ,
  • oder durch Vorstellung in einem Krankenhaus ohne INZ, soweit es eine Notfallstufe besitzt.

Das führt zu der hoffentlich nicht beabsichtigten Situation, dass Notfallbehandlung nicht qualitätsorientiert konzentriert wird, sondern ins Belieben der fachunkundigen Hilfesuchenden gestellt wird. Für den Patienten, insbesondere mit nicht ganz akuten Beschwerden, kann der Besuch eines Krankenhauses ohne INZ sogar besonders attraktiv werden: Dort entfallen die steuernden Restriktionen, die bei den INZ vorgesehen sind. Weder besteht ein Vorrang für Patienten, die über die Terminservicestellen eingebucht sind, noch gilt hier ein Ausschluss für Routineuntersuchung. Es erfolgt keine Weiterleitung an Dritte, sondern man erhält, wie gehabt, das komplette Programm (schon aus haftungsrechtlichen Gründen). Im Sinne der Qualität, Kosten und Patientensteuerung ein glattes Eigentor.

 

Drittens:

Ein anerkanntes Defizit der Notfallversorgung sind die fehlende Standardisierung und inkompatible Vielfalt der Prozesse. Deshalb sollte eine Reform sich bemühen, wo immer möglich gleiche Rahmenbedingungen zu entwickeln. Umso unverständlicher ist es, dass der Gesetzentwurf in einem wesentlichen Punkt genau den gegenteiligen Weg geht. Die erweiterten Landesausschüsse haben demnach in jedem Land die Kriterien für Planungsgebiete für die Einrichtung von INZs eigenständig zu entwickeln. So werden Entscheidungen, die zuständigkeitshalber bundeseinheitlich getroffen werden könnten, auf untergeordnete Ebenen verlagert und damit in die Beliebigkeit delegiert. INZs werden also in Bayern nach anderen Kriterien bestimmt als im Saarland. Zwar liefert der Gesetzentwurf Anregungen für Kriterien, ohne aber ein einheitliches Verfahren vorzugeben. Warum kann nicht, wie sonst bei der Überwindung von Schnittstellen zwischen den SGB V-Institutionen üblich, der G-BA eine Definition der Kriterien bundeseinheitlich bestimmen? Genügend zusätzliche Flexibilität ist im Gesetz durch Exit-Möglichkeiten für unterversorgte Gebiete eröffnet worden, um regionale Bedingungen zu berücksichtigen.

 

Viertens: 

Blauäugig ist auch die Erwartung, dass die Ersteinschätzungssysteme von Rettungsdienst und KV nach § 135a Abs. 2 durch reine Vernunft und Freiwilligkeit zusammengeführt werden können. Wie vermutet werden kann, dass 17 KVen es schaffen, sich mit 200 Rettungsleitstellen, die bei der Notrufannahme sehr unterschiedlich aufgestellt sind und ein stolzes Eigenleben führen, auf freiwilliger Basis über ein gemeinsames oder kompatibles Ersteinschätzungssystem abzustimmen, bleibt ein Rätsel. Die schärfste Waffe, die dem BMG dazu einfällt, ist ein Berichtswesen, das den Fortschritt der Zusammenführung in regelmäßigen Abständen öffentlich beschreibt. Diese Berichte werden keine Rettungsleitstelle veranlassen, ihren eigenen Weg zu verlassen und sich der Bundeseinheitlichkeit unterzuordnen. Sieht man einmal von einigen Pionieren ab, wird es schlicht nicht zu einer Zusammenführung der KV-Notrufsysteme mit denen der Rettungsleitstelle kommen. Die in den früheren Gesetzentwürfen noch vorgesehenen finanziellen Anreize für eine Systemzusammenführung fehlen. Der Vorschlag zur Errichtung eines gesetzlich normierten Expertengremiums, deren Empfehlungen Grundlage einer künftigen Kassenfinanzierung werden, wurde nicht aufgegriffen.

 

Fünftens: 

Man merkt an einigen Stellen, dass der Entwurf trotz des langen Vorlaufes nicht durchdacht ist. Die Fachwelt ist sich einig, dass es für die Behandlung eines Notfalls entscheidend ist, alle einmal erhobenen Informationen, alle eingeleiteten Maßnahmen und jede involvierte Institution in einem einheitlichen Datensatz abzuspeichern, auf den alle beteiligten Einrichtungen zugreifen können. Zwischen KVen und Rettungsdienstleitstellen ist das, zumindest theoretisch (siehe oben), angedacht. Aber die Gesetzesformulierung vergisst, die INZ in diese gemeinsame Struktur einzubinden, vom Rettungsdienst ganz zu schweigen. Nirgends wird eine solche zeit- und kostensparende gemeinsame Dokumentation in der rechtlichen Ausgestaltung der INZ erwähnt.

 

Sechstens: 

Bleibt noch die Kritik der KBV, dass alles personell nicht machbar sei. Dies trifft sicherlich auf einige Regionen teilweise zu. Zwar ist es ein großer Fortschritt, dass die Erlaubnis zur Einbindung von Gemeindenotfallsanitätern in den KV-Notdienst im Gesetz aufgenommen wurde, aber eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen dem Rettungsdienst und der wegbrechenden vertragsärztlichen Versorgung außerhalb der Sprechstundenzeiten, besonders in ländlichen Gebieten, wird nicht eröffnet.

Auf der anderen Seite ist es erstaunlich, dass die beschworene personelle Notlage für die KV sofort an Bedeutung verliert, wenn es zusätzliches Geld zu verdienen gäbe.

 

Auf Verhandlungsgeschick der Parlamentarier setzen, ist mutig

Soweit die kritische Würdigung. Es ist zwar zu konstatieren, dass die Vorlage eines Gesetzentwurfes noch in dieser Legislaturperiode ein Fortschritt an sich ist. Das Vorhaben soll nach dem Kabinettsbeschluss am 17. Juli im Anschluss an die Sommerpause in das Bundesrats- und parlamentarische Verfahren gehen. Ob es dort gelingt, diese und andere Fehlstellen und Inkompatibilitäten zu korrigieren, bleibt abzuwarten. Auch hier, wie schon beim KHVVG und beim GVSG, allein auf das Verhandlungsgeschick der Parlamentarier zu setzen, ist ein sehr mutiges Unterfangen. Das Gesetz in der jetzigen handwerklich schlecht gemachten und nicht zu Ende gedachten Form so weiter zu verfolgen, wäre zwar ein nominaler Erfolg für das BMG, aber im Ergebnis eher ein Wasserschlag als eine wirksame Notfallreform.

 

 

Lesen Sie weitere Beiträge des Autors zur Reform der Notfallversorgung: 

„Notfallreform wieder auf der Agenda“, Observer Gesundheit, 23. Januar 2024,

„… leider  wieder nicht umsetzbar“, Observer Gesundheit, 12. September 2023,

„Kein Wumms für die Notfallversorgung“, Observer Gesundheit, 20. März 2023,

„Die Endlichkeit des Nirwana“, Observer Gesundheit, 8. Februar 2022,

„Nirwana statt Tigersprung?“, Observer Gesundheit, 6. November 2020.


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