25.10.2024
Der Beitragstsunami rollt an – und die Ampel rennt davon
Stephan Pilsinger MdB, fachpolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe für Gesundheitspolitik
Nicht nur aus der Wirtschaft erreichen uns beinahe täglich negative Nachrichten; nein, auch im Bereich der Sozialversicherung wird die Lage nach drei Jahren der Ampel-Regierung zunehmend düster bis bedrohlich. Während der nahende Beitragstsunami größer und größer wird, rennt die Ampel einfach davon – wissend, dass der Tsunami sie trotzdem packen wird.
Zuletzt erreichten uns die unschönen Zahlen des GKV-Schätzerkreises, wonach der durchschnittliche GKV-Zusatzbeitrag im kommenden Jahr rechnerisch um 0,8 Prozentpunkte auf 2,5 Prozent im Schnitt steigen wird. Eine Rekordbelastung für die Beitragszahler! Das heißt konkret in Zahlen: Für Durchschnittsverdiener (4.208 Euro Monatsbrutto) steigt der GKV-Beitrag ab Januar 2025 von bisher 616 Euro auf dann 720 Euro – ein Anstieg um 17 Prozent. Dazu kommt der Beitrag für die Pflegeversicherung, die nach Prognosen des GKV-Spitzenverbands zum 1. Januar 2025 auf bis zu 179 Euro (für Kinderlose) steigen wird; das entspricht einer Erhöhung um rund 16 Prozent.
Hohes Risiko bei unvorhersehbaren Ausgaben
Insgesamt zahlen Durchschnittsverdiener also 2025 monatlich 899 Euro für Kranken- und Pflegeversicherung in der GKV – eine Mehrbelastung pro Jahr um bis zu 1.584 Euro! Für Versicherte mit Einkünften an der Bemessungsgrenze (5.512,50 Euro im Monat) steigt der GKV-Beitrag ab Januar 2025 von bisher 844 Euro auf dann 943 Euro – ein Anstieg um 12 Prozent. Auch hier kommt der Beitrag für die Pflegeversicherung dazu, der nach Prognosen des GKV-Spitzenverbands zum 1. Januar 2025 auf bis zu 234 Euro (für Kinderlose) steigen wird, was einer Erhöhung um rund 13 Prozent entspricht. Insgesamt zahlen GKV-Versicherte an der Bemessungsgrenze 2025 also monatlich 1.177 Euro für Kranken- und Pflegeversicherung – eine Mehrbelastung pro Jahr um bis zu 1.512 Euro!
Weiter geht es mit hässlichen Zahlen: Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland machte von Januar bis Juni 2024 ein Minus von 2,2 Milliarden Euro, während deren Finanzreserven Ende Juni 2024 gerade einmal rund 6,2 Milliarden Euro ausmachten; das entspricht 0,23 Monatsausgaben bei einer gesetzlich vorgegebenen Mindestreserve von 0,2 Monatsausgaben. Das ist so gut wie nichts! Das bedeutet ein hohes Risiko im Falle unvorhersehbarer Ausgaben – Stichwort Corona-Pandemie…. Insgesamt haben die Krankenkassen im ersten Halbjahr mehr ausgegeben als sie eingenommen haben: Einnahmen in Höhe von 159,1 Milliarden Euro standen Ausgaben in Höhe von 161,3 Milliarden Euro gegenüber.
Bundesgesundheitsminister schaut tatenlos zu
Ein deutliches Defizit verzeichnete der Gesundheitsfonds, der in der ersten Jahreshälfte 2024 ein Minus von 6,3 Milliarden Euro zu verzeichnen hatte. Für 2025 kalkulieren die Kassen mit einem Defizit zwischen 3,5 Milliarden und 7 Milliarden Euro; für die Pflegeversicherung rechnen die Kassen mit einem Minus von rund 2,5 Milliarden Euro.
22 Kassen sahen sich in diesem Jahr bis August bereits gezwungen, ihre Zusatzbeiträge unterjährig anzuheben, was für jede vernünftig wirtschaftende Kasse eigentlich das letzte Mittel ist, zumal sich daraus ein Sonderkündigungsrecht für die Versicherten ergibt. „Damit stehen keine Reserven mehr zur Verfügung, um Beitragssteigerungen im nächsten Jahr zu verhindern oder auch nur abzumildern – und der Bundesgesundheitsminister schaut tatenlos zu“, stellte die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer, in einer Pressemitteilung des GKV-Spitzenverbands vom 9. September 2024 fest. Leider nur zustimmen kann man der GKV-Chefin, wenn sie hier sagt: „Immer neue Gesetze, die die gesundheitliche Versorgung kaum besser, dafür aber deutlich teurer machen, lösen die strukturellen Probleme der GKV nicht. Gesetze müssen die Versorgung verbessern und dürfen dabei die Einnahmenentwicklung nicht ignorieren. Das Gesundheitswesen funktioniert nur, wenn es medizinisch, pflegerisch und ökonomisch im Gleichgewicht ist. Alles andere kann sich das Gesundheitswesen nicht mehr leisten und nützt auch den Versicherten nicht“.
Einseitige Abzocke beim Transformationsfonds
So erhöht sich auch das Niveau der gesamten Sozialversicherungsbeiträge, das bis zum Regierungswechsel 2021 40 Prozent nie überschritt und heute bei schon 40,9 Prozent liegt. Prognosen verschiedener Verbände zufolge könnte das Niveau zukünftig die 50 Prozent überschreiten, wenn es zu keinen wesentlichen strukturellen Änderungen kommt. Noch nicht einmal eingerechnet in die genannten Zahlen sind weitere Vorhaben der Ampel, wie z. B. der Transformationsfonds in Höhe von insgesamt 50 Milliarden Euro, die zur Hälfte allein die GKV-Beitragszahler schultern sollen, wie es die Mehrheit der Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag mit dem KHVVG nunmehr gegen den erheblichen Protest der Unionsfraktion beschlossen hat – gegen jede juristische Erkenntnis, dass diese einseitige Abzocke verfassungswidrig ist. Die Liste der Horror-Zahlen könnte hier noch fortgesetzt werden.
Und wie reagiert der Bundesgesundheitsminister? Auch in seinem Statement zu den Zahlen des GKV-Schätzerkreises wiederholt er die alte Leier, die er auch schon bezüglich der schlechten Nachrichten zur desolaten Kassenlage ein paar Wochen und Monate zuvor heruntergebetet hat: Seine Reformen im Gesundheitswesen (bei ihm ganz gerne „Revolutionen“!) würden mittel- bis langfristig die Qualität der Versorgung verbessern und Effizienzreserven heben, die dann auch wieder die Beiträge stabilisieren würden. Welche Effizienzreserven, muss man sich fragen? Beim kürzlich beschlossenen KHVVG etwa sind solche jedenfalls nicht zu erkennen, zumal das vorhandene Geld im System einfach nur umverteilt wird.
Es ist unfassbar und untragbar, dass Minister Lauterbach mit seiner Ausfall-Ampel diesen Beitragstsunami, der da auf die Versicherten schwappt, einfach achselzuckend hinnimmt. So antwortete der Minister in einem Interview mit dem Magazin STERN vom 30. August 2024 auf die Frage, ob für Jahr 2025 ein erneuter Anstieg der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung drohe, wörtlich: „Beim Beitragssatz werden wir wohl einen Anstieg sehen.“ Um die aus seiner Sicht notwendigen Strukturreformen umzusetzen, sei jetzt „die Phase, in der wir Geld in die Hand nehmen müssen, auch das der Beitragszahler“. Diese Aussagen wurden vonseiten der Krankenkassen scharf kritisiert. So wird die Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen, Ulrike Elsner, in einer Pressemitteilung vom 30. August 2024 wie folgt zitiert: „Minister Lauterbach kündigt ,schicksalsergeben‘ erneut Beitragssatzsteigerungen an und bringt gleichzeitig ein teures Gesetz nach dem anderen auf die Agenda, ohne dass die Versorgung der Versicherten spürbar besser wird. […] Anstatt immer weiter in die Taschen der Versicherten und Arbeitgeber zu greifen, brauchen wir die Rückkehr zu einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik.“ Das ist der Punkt.
Davon völlig unbeeindruckt „versicherte“ Lauterbach erst kürzlich in einem Interview vom 20. Oktober 2024 mit der BILD-Zeitung, dass es aber nach 2025 keine weiteren Beitragssteigerungen geben werde. Aha! Und wie bitte, wenn alles beim Alten bleibt? Der Gipfel der Unverfrorenheit stellt die dem Verfasser gegenüber schriftlich bestätigte Aussage der Bundesregierung dar, dass der Bund den Pflegekassen die noch offenen rund sechs Milliarden Euro für Sonderausgaben wie Pflege-Boni und Corona-Schutzmaßnahmen nicht erstatten werde, die die Pflegekassen vorgestreckt hatten, obwohl der Bund dazu rechtlich verpflichtet ist, wie ein aktuelles, von der DAK in Auftrag gegebenes Gutachten klar aufzeigt. „Darüber hinaus wird auf die derzeit angespannte Lage des Bundeshaushalts hingewiesen.“, so das BMG mir in seiner Antwort auf eine entsprechende Einzelfrage achselzuckend antwortend. Das ist der innere Bankrott einer Regierung! Und schon wird in den Medien über die Insolvenz der Pflegeversicherung schon im Februar 2025 spekuliert. Ampel at ist best!
Vorschlag: Einsatz einer Fachkommission
Wir brauchen dringend eine nachhaltig wirkende, durchdachte Strukturreform – und zwar nicht als Überschrift einer Sonntagsrede, sondern als konkretes Projekt in Priorisierung 1a der nächsten Bundesregierung, das die Union als Seniorpartner der künftigen Koalition anfassen wird, ja anfassen muss, auch wenn diese Aufgabe ein sehr schweres Mammutprojekt darstellt. Dazu müssen wir sehr schnell eine hochbesetzte interdisziplinäre Fachkommission ernennen, die noch in den ersten beiden Regierungsjahren konkrete Strukturreformen vorschlägt, die dann in der zweiten Hälfte der Legislatur auch gegen erwartbare inner- und außerparlamentarische Widerstände umgesetzt werden. Ob dieses Gremium „Regierungskommission“, „Fachkommission“ oder „Enquete-Kommission“ heißen wird, ist völlig zweitrangig. Wir brauchen mutige, viele Jahre wirkende Maßnahmen, die unser System einerseits stabil und bezahlbar halten, aber auch die erstklassige Gesundheits- und Pflegeversorgung unserer Bevölkerung sichern, um die wir international bewundert und beneidet werden.
Zu diesen Umstrukturierungen gehören vieldiskutierte, aber nie konkret angefasste Maßnahmen wie die Dynamisierung des Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen, eine klare Definition „versicherungsfremder Leistungen“ inklusive der Herauslösung klar dem Gesamtstaat und damit dem Bundeshaushalt zuzuordnender Aufgaben und Leistungen, eine endlich adäquate und faire Refinanzierung der Ausgaben für Bürgergeld-Empfänger, die nach Überzeugung des Verfassers klar eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und damit aus Steuermitteln zu leisten ist, oder die Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel von derzeit noch immer 19 auf 7 Prozent, wie das in den meisten unserer Nachbarstaaten schon lange üblich ist. Warum ich für „Originalerzeugnisse der Bildhauerkunst“, wie es im Umsatzsteuergesetz festgelegt ist, nur 7 Prozent Mehrwertsteuer zahle, für mein lebensnotwendiges Krebsmedikament aber 19 Prozent, ist dem Verfasser jedenfalls nicht ersichtlich.
Jetzt umsteuern
Ein weiterer Baustein der notwendigen Strukturreform sind neue Wege der Patientensteuerung, die hier aus Platzgründen nicht ausführlicher dargestellt werden können. Jedenfalls muss sich die Gesundheits- und Sozialpolitik sehr bald Gedanken machen, wie unnötige Kosten in dreistelliger Millionenhöhe künftig eingespart werden können, indem vorgezeichnete Pfade der Versorgung pekuniär belohnt werden, während für die Flatrate im Gesundheitssystem künftig mehr zu zahlen sein wird. Wichtig bleibt aber die Wahlfreiheit für alle Versicherten. Auch müssen wir die bereits begonnene Ambulantisierung konsequent ausbauen und zum Lebensalltag der Patienten und der Leistungsanbieter machen.
In einer immer älter werdenden Gesellschaft, in der die Menschen von Multimorbidität gekennzeichnet sein werden, und die durch den medizinischen und technischen Fortschritt gleichzeitig immer kostenintensiver wird, ist ein „Augen zu und Weiter so!“ nicht mehr möglich und kann nicht Einstellung seriöser Gesundheits- und Sozialpolitik sein. Wenn wir das aus dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Grundgesetz abzuleitende Gebot der Gewährleistung einer angemessenen, zweckmäßigen, wirtschaftlichen und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung in Deutschland erhalten wollen, müssen wir JETZT umsteuern und JETZT mutig neue Wege gehen. Dazu ist die aktuelle Bundesregierung nicht bereit und nicht fähig. Dann muss es eben die neue Regierung angehen. Aber richtig. Und konsequent.
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