Den demografischen Wandel meistern!

Die Pflegereform ist seit langem überfällig

Kordula Schulz-Asche MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied des Gesundheitsausschusses, Sprecherin für Alten- und Pflegepolitik

Seit Jahrzehnten schauen wir auf das Phänomen, dass in unserer Bevölkerung ab Mitte der 50er bis Ende der 60 Jahre ein Babyboom stattfand – und unsere Gesellschaft regelmäßig vor Herausforderungen stellte. Als die Kinder wegen der Schulpflicht eingeschult werden mussten, wurden zusätzliche Lehrkräfte ausgebildet. Für die Jugendlichen gab es zu wenige Arbeitsplätze – für viele bedeutete dies soziale Ausgrenzung und Armut. Für Eltern gab es zu wenige Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 

Heute beginnen die ersten Jahrgänge der Babyboomer, in die Rente zu gehen. Das führt zu steigenden Kosten für die Rente und einem bereits spürbaren Fachkräftemangel. Auch wissen wir jetzt schon, dass der Bedarf an Unterstützung im Alltag und Pflege deutlich steigt. Deshalb heißt es spätestens jetzt: Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ältere Menschen und ihre Familien in den nächsten Jahrzehnten gut ihr Leben meistern können. Die Regierungskoalition hat sich zum Ziel gesetzt, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Einige Schrauben dafür wurden schon gedreht, viele müssen aber noch in Angriff genommen werden.

Professionelle Unterstützung älterer oder pflegebedürftiger Menschen muss vor Ort sichergestellt sein. Angesichts immer länger werdender Wartelisten bei Pflegediensten und Heimen muss der Pflegeberuf attraktiver werden. Die verpflichtende tarifliche Bezahlung der Pflegekräfte haben wir erreicht. Aber damit steigen auch die Kosten, die durch die nicht vorhersehbaren Energiepreise, Inflation usw.  noch weiter in die Höhe getrieben werden.

Die Pflegeversicherung – das ist ein Webfehler – ist nur eine Teilkostenversicherung. Das heißt: Die Pflegeversicherung übernimmt nur einen Teil der anfallenden Kosten, alles andere müssen die Gepflegten selbst als Eigenanteil übernehmen. In der ambulanten Pflege werden daher nicht alle notwendigen Leistungen in Anspruch genommen, währen in der stationären Pflege immer mehr Familien finanziell überfordert sind.

 

Kostenausgleich zwischen privater und sozialer Pflegeversicherung erforderlich

Die Pflegereform, die jetzt auf den Weg gebracht wird, ist also seit langem überfällig. Der erste Aufschlag aus dem Bundesgesundheitsministerium ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.  Weitergehende Reformen aus dem Koalitionsvertrag stehen jedoch noch aus, um sowohl Pflegebedürftige und ihre Familien als auch Pflegekräfte zu entlasten.

Derzeit befindet sich die Pflegeversicherung in einer Schieflage, die neben den demografischen Gründen den Pandemiekosten und anderen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben geschuldet ist. Dazu gehören beispielsweise auch Rentenbeiträge für pflegende Angehörige. Um diese Kosten nicht auf die einzelnen Familien abzuwälzen, muss unserer Ansicht nach eine Finanzierung aus Steuermitteln möglich sein, was sich leider als schwierig gestaltet. Im Koalitionsvertrag ist ohnehin eine moderate Erhöhung der Beitragssätze vorgesehen. Kurzfristig käme auch eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in Betracht. Letztendlich werden wir aber zu einem Kostenausgleich zwischen der privaten und sozialen Pflegeversicherung kommen müssen. Denn in unserer Gesellschaft sind alle Menschen gleich viel wert!

Pflegende Angehörige sind der wichtigste Träger der häuslichen Versorgung in Deutschland. Mehr als 80 % der Pflegebedürftigen werden zu Hause von Angehörigen, Nachbarn, Freunden oder Ehrenamtlichen versorgt, oft ohne Unterstützung von professionellen Pflegediensten. In den nächsten 10 bis 15 Jahren wird der Pflegebedarf absehbar massiv steigen, wenn die vielen Akteure nicht präventiv und unterstützend tätig werden. Neben der konkreten Unterstützung vor Ort werden wir das Pflegegeld frühzeitiger erhöhen müssen, damit eine spürbare Entlastung bei den Menschen eintritt.

 

Pflegereform nur vollständig bei ganzheitlicher und nachhaltiger Betrachtung

Bei der jetzigen Pflegereform geht es vor allem um die Pflegeversicherung. Die versprochene Reform für gute Pflege ist aber nur vollständig, wenn Pflege ganzheitlich und nachhaltig betrachtet wird. Wesentlich dafür sind massive Aufwertung der Pflegeberufe und gute Arbeitsbedingungen. Nur so schaffen wir es, Menschen, die in der Pflege (gerne) arbeiten möchten, tatsächlich auch für den Beruf zu gewinnen. Angewiesen sind wir dabei aber sowohl auf vermehrte und attraktivere Ausbildung als auch auf die Zuwanderung von Fachkräften. Diese müssen wir erheblich erleichtern, denn wir stehen auch im Pflegebereich im weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe. Auch die Einwanderung in Ausbildung und den Spracherwerb sollten wir stärker vorantreiben.

Alle Verbesserungen im Pflegesystem verbessern den Alltag der Gepflegten. Es gibt zusätzlich aber auch digitale Innovationen, die ihre Selbständigkeit unterstützen können. Mehr Selbstbestimmung sowohl der Pflegebedürftigen als auch der professionellen Pflege kann die Versorgung zu Hause, im Stadtteil oder im Heim wesentlich verbessern. Noch können wir einen massiven Pflegenotstand verhindern! Unsere gesamte Gesellschaft muss sich auf den Weg machen, den demografischen Wandel nicht länger zu ignorieren. Menschlichkeit durch Solidarität ist dabei das Leitbild.


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