Das TSVG – der langersehnte Turbo für die Digitalisierung?

Jens Naumann, Geschäftsführung medatixx GmbH & Co. KG

Das imposante Wachstum des TSVG zu einem XXL-Omnibusgesetz überrascht selbst eingefleischte Kenner der Szene. Der deutlich erkennbare Wunsch des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), alles Wesentliche für diese Legislaturperiode in dieses Gesetz zu packen, ist überdeutlich spürbar. Über die Gründe dafür ist hinreichend ausführlich spekuliert worden. Festzustellen ist, dass das BMG offensichtlich anerkennt, dass zu vielen Themen Entscheidungen längst überfällig sind.

Auch und insbesondere ist dies bei Regelungen rund um die Digitalisierung der Fall; lange genug wird nun bereits über den großen Rückstand zum Rest der Welt und die zwingend notwendige Aufholjagd gejammert. Eine Vielzahl der Digital-Paragrafen des TSVG findet Antworten auf längst überfällige Fragen im Rahmen der Digitalisierung; so zum Beispiel im Zusammenhang der Digitalisierung der Terminservicestellen.

 

gematik wird staatlich – und Kassen und KBV erhalten üppige Entschädigung

Weitere Vorhaben des TSVG im Kontext der Digitalisierung hingegen wirken lediglich auf den ersten Blick faszinierend: Durch eine mehrheitliche Beteiligung des BMG soll der Selbstverwaltung ihr seit Jahren wirksames Blockadeinstrument gematik genommen werden. Im Gegenzug – quasi als Trost? – sollen die wichtigsten Protagonisten der gematik mit sehr weitgehenden Rechten im Digitalisierungskontext entschädigt werden: Den Krankenkassen wird das Recht eingeräumt und zugleich die Pflicht auferlegt, ihren Versicherten eigene elektronische Patientenakten anzubieten. Der KBV wird in Aussicht gestellt, zukünftig alleiniger Herrscher über Spezifikationen für Standards der Medizininformatik in Deutschland zu werden.

Dieses Vorhaben, das aus größerer Distanz zunächst nach einem geschickten Schachzug zur endgültigen Lösung des gordischen Digitalisierungsknotens aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein ordnungspolitischer Sündenfall mit fatalen Folgen: Denn: Was wird geschehen, sollte diese Vorhaben in dieser Form Gesetzesrealität werden?

 

Eine Einheitsakte ignoriert die Lebenswirklichkeit

Das Angebot einer einzigen Aktenlösung für alle Versicherten einer Krankenkasse ignoriert, dass diese Standardakte niemals die höchst individuellen Anforderungen der Versicherten in unterschiedlichen Lebenslagen und Gesundheitszuständen abbilden kann, stellt doch zum Beispiel ein Familienvater mit zwei Kindern und einem pflegebedürftigen Elternteil vollständig andere Anforderungen an eine e-Patientenakte als ein Patient mit einer schweren chronischen Erkrankung.

Die Folgen dieser Einheitsakten-Regelung werden ein fehlendes Angebot individueller, passgenauer Lösungen und damit eine geringe Akzeptanz der Patienten sein – und ein weiter ungeregeltes Angebot beliebiger freier Patienten-, Fall- und Gesundheitsakten vollständig neben den Strukturen, Verbindlichkeiten und Sicherheiten unseres Gesundheitssystems.

 

Die KBV als medizininformatisches Fachinstitut – ein ordnungspolitischer Sündenfall

Dem nicht genug: Übergibt man der KBV die Hoheit über IT-Standards für das Gesundheitswesen, so legt man eine ungeheure Macht in ihre Hände, deren Wirkung die Krankenkassen spätestens in der nächsten Honorarverhandlungsrunde zu spüren bekommen werden. Alleine die Vorstellung der praktischen Umsetzung dieser Gesetzesregelung lässt erschauern: Die KBV – bisher als Körperschaft öffentlichen Rechts für Vertragsverhandlungen, nicht aber als Fachinstitut der Medizininformatik bekannt – spezifiziert alle für den Datenaustausch im Gesundheitssystem zwischen Arztpraxen, Krankenhäusern, Apotheken und sonstigen Leistungserbringern notwendigen IT-Standards. Sie würde damit ein mächtiges Instrument verfügen, Dateninhalte in ihrer Granularität, in ihrer Verfügbarkeit und in ihrer Transparenz selbst zu bestimmen. Es bedarf wenig Fantasie, sich auszumalen, zu welchen Zwecken die KBV dieses Instrument einsetzen kann.

Hinzu kommt, dass die KBV bei all den von ihr im Rahmen ihrer Zertifizierungsverpflichtungen für Praxissoftware entwickelten Spezifikationen bisher trotz unzähliger Hinweise, Bitten und Aufforderungen vor allem eines nicht getan hat: Konsequent auf internationale, weltweit bewährte, wissenschaftlich konsentierte IT-Standards zu setzen. Proprietäre Schnittstellen aber verhindern wirkliche Interoperabilität. Entsprechend harsch und vehement sind auch die Reaktionen quer durch das System: Ob DKG, medizinische Fachgesellschaften, ob Standardisierungsgremien, die Medizininformatik oder die Industrie – Einhelligkeit besteht in der Bewertung der fatalen Wirkung der Umsetzung dieses Vorhabens.

 

Stillstand, wenn Digitalisierung Besitzstände wahrt

Es bleibt zu hoffen, dass das verständliche Anliegen des BMG, den Kassen und der KBV eine „Entschädigung“ für die Wegnahme der Hoheit über die gematik anzubieten, durch andere Maßnahmen erreicht werden kann und nicht stattdessen einigen jener Organisationen, die in den vergangenen Jahren für die Blockade innerhalb der gematik verantwortlich waren, jetzt singulär noch mehr Rechte und noch mehr Macht zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen einzuräumen. Wenn die Digitalisierung – ein zunächst und an sich technischer, unpolitischer Vorgang – dafür eingesetzt werden soll, um Besitzstände zu wahren und Einflusssphären zu vergrößern, werden wir innerhalb des verfassten Gesundheitssystems weiter digitalen Stillstand erleben – und die starken Kräfte des Digital-Marktes ihren Pfad auch durch unser Gesundheitssystem legen; ganz ohne Regulation und Fürsorge.

Deshalb ist zu wünschen, dass die Koalitionäre im Endspurt der parlamentarischen Verabschiedung des TSVG die vielzähligen Kommentierungen zu den Regelungen rund um Patientenakten und zu den Government-Strukturen der IT-Standards aufgreifen und Rahmenbedingungen schaffen, die ein bedarfsgerechtes und damit vom Patienten akzeptiertes; vielfältiges Aktenangebot ermöglichen und eine entpolitisierte Erstellung und Pflege von IT-Standards zulassen. Vorschläge, wie dies gehen kann, gibt es genug.


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