05.03.2025
Das Apothekensystem nach der Wahl: Strukturerhalt oder Modernisierung?
Dr. Reiner Kern, Group Director Communications and Public Affairs, DocMorris AG*
Die Apothekenreform endete letztes Jahr in der Konkursmasse der Ampel-Regierung. Nach der Bundestagswahl wird die Diskussion darüber wieder beginnen. Aber wie dringend ist die Reform, und wie müsste sie aussehen? Wie steht es eigentlich um die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung? Wie geht es den Apotheken wirtschaftlich, und was bedeuten Betriebsschließungen?
Ein nüchterner Blick auf Zahlen und Fakten widerlegt so manches in Debatten gepflegte Vorurteil. Trotzdem wird es Eingriffe in das System brauchen, um die Versorgung in Zeiten von Babyboomer-Shift, Fachkräftemangel und knappen Kassen für das nächste Jahrzehnt zu sichern. Dabei geht es aber längst nicht allein um Vergütung, sondern vor allem um eine konsequente Digitalisierung und Antworten auf sozio-ökonomische Veränderungen.
In der letzten Legislaturperiode wurde sie zuerst vehement eingefordert, dann aufs heftigste bekämpft: eine Apothekenreform. Dabei wurde der Streit um die Zukunft des Arzneimittelversorgungssystems mit einer selbst für die traditionell streitbare Apothekerschaft bemerkenswerten Heftigkeit geführt. Die Argumentationslinie ihrer Berufsorganisationen war bestrickend einfach: Eine stetig zunehmende Zahl an Apothekenschließungen gefährde die flächendeckende Versorgung der Patienten. Grund sei neben zu viel Bürokratie und fehlender Wertschätzung für die fachliche Kompetenz der Pharmazeuten vor allem die unzureichende Vergütung für verschreibungspflichtige Arzneimittel (RX), die seit 2013 nicht mehr angepasst wurde. Ein Reformgesetz müsse her, mit der das packungsbezogene Fixum kräftig erhöht und dauerhaft dynamisiert werde, damit das bewährte Versorgungssystem erhalten werden könne. Im Kern ging es also um zweierlei: Um mehr Geld und um den Erhalt der bisherigen Strukturen. Die Latte wurde hochgelegt. Statt der bisherigen 8,35 Euro, so forderte die ABDA im Frühjahr 2023, sollte es 12 Euro pro Packung geben, während der nicht gedeckelte variable Vergütungsanteil von 3 Prozent des Apothekeneinkaufspreises unangetastet bleiben sollte.
Gescheiterte Apothekenreform
Dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) war ein Apothekenreformgesetz ohnehin schon aus dem Koalitionsvertrag 2021 aufgegeben. Das Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz aus der vorangegangen Legislatur sollte demnach reformiert werden, „um pharmazeutische Dienstleistungen besser zu honorieren und Effizienzgewinne innerhalb des Finanzierungssystems zu nutzen.“ Eckpunkte dafür legte das BMG nach wiederholten Verzögerungen aber erst im Herbst 2023, den Referentenentwurf für ein Apotheken-Reformgesetz (Apo-RG) im Frühsommer 2024 vor. Er sah zum einen eine aufkommensneutrale Umschichtung der RX-Vergütung vor, bei der eine stufenweise Anhebung des Fixums auf 9 Euro bis 2026 durch eine parallele Absenkung des prozentualen Vergütungsanteils von 3 auf 2 Prozent gegenfinanziert werden sollte.
Zum anderen sollte der Apothekenbetrieb durch die Reduzierung von Auflagen erleichtert werden. Fililalgründungen sollten einfacher, Öffnungszeiten flexibler und die Auflagen für die Anwesenheit eines approbierten Pharmazeuten weniger streng werden. Anstelle der apothekerlichen Forderung nach mehr Geld und Strukturerhalt sollte es also Umverteilung und zumindest punktuelle Strukturanpassungen geben. Die verfasste Apothekerschaft war davon erwartungsgemäß wenig begeistert. Vor allem die Option, Filialen auch öffnen zu dürfen, wenn lediglich Pharmazeutisch-Technische Assistenten (PTA) vor Ort sind und sich bei Bedarf per Video mit einem Apotheker in der Hauptapotheke beraten können, wurde als Sündenfall angesehen. So leidenschaftlich eine Apothekenreform zuvor eingefordert worden war, so heftig wurde das Apo-RG und die damit dräuende „Apotheke light“ nun kritisiert. Die FDP, in der die alte Liebe zu den freien Heilberufen wieder neu entbrannt war, sprang den Apothekern bei und blockierte die Reform im Kabinett. Damit wurde das Apo-RG wie so manches andere legislative Vorhaben Teil der Konkursmasse der vorzeitig beendeten Ampel-Koalition.
Fakten zur Versorgungslage
Doch mit dem Reset der Bundestagswahl ist die Debatte um die Zukunft der Arzneimittelversorgung mitnichten beendet. Sie wird auch in der neuen Legislaturperiode wieder anheben. Umso mehr lohnt ein Blick auf die nüchternen Zahlen und Fakten: Wie steht es um die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln? Und wo gibt es tatsächlich politischen Handlungsbedarf?
Unbestritten ist, dass die Zahl der Apotheken-Betriebsstätten in den letzten Jahren mit wachsendem Tempo abgenommen hat. Sie fiel zwischen Jahresende 2018 und 2023 von 19423 auf 17581 (und 2024 weiter auf ca. 17.000).[1] Das entspricht einem Rückgang um 1842 Apotheken oder 9,5 Prozent in fünf Jahren. Das scheint zunächst ein alarmierender Befund. Bei genauerer Betrachtung verliert er aber an Schrecken. Denn die Zahl der in Apotheken Beschäftigten ist im gleichen Zeitraum weitgehend stabil geblieben. Es gab lediglich einen leichten Rückgang um gut ein Prozent von 159.000 auf 157.000, der vor allem auf den zunehmenden Fachkräftemangel bei pharmazeutischem Personal zurückzuführen ist. Während also auf der einen Seite Apotheken schließen, übernehmen auf der anderen Seite verbleibende Betriebe Personal und Kunden. Weniger Betriebsstätten bedeuten damit nicht per se weniger Betreuungskapazität für die Bevölkerung.
Die Erreichbarkeit von Apotheken ist im Großen und Ganzen gut und hat durch die Schließungen erstaunlicherweise kaum gelitten. Laut Apothekenwirtschaftsbericht 2024 des DAV[2] hat sie sich für 82,3 Millionen Bundesbürger zwischen 2018 und 2023 nicht verändert. Für knapp 379.000 Menschen hat sich die Distanz zur nächsten Apotheke sogar verringert. Für 47,7 Mio. Menschen bzw. gut 56% der Bevölkerung betrug der Weg zur nächsten Apotheke weniger als 1 km (Luftlinie). Für 2.067.000 Menschen hat sich die Erreichbarkeit verschlechtert. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von etwa 2,4 Prozent. Für knapp die Hälfte von ihnen (969.000) hat sich die Distanz aber nur leicht von weniger als 1 km auf 1 bis 2 km vergrößert.
Die Zahl der Menschen, die weite Wege von über 10 km zur nächsten Apotheke zurücklegen müssen, hat seit 2018 nur um knapp 25.000 auf nunmehr 128.000 Personen zugenommen. Das entspricht ca. 0,15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wenn die Zahl der Betriebsstätten um fast ein Zehntel zurückgeht, die Zahl der Menschen mit weiten Wegen zur nächsten Apotheke aber nur im Promillebereich zunimmt, wird klar: Ein Rückgang der Apothekenzahl bedeutet nicht per se eine Gefährdung der flächendeckenden Versorgung. Es sind in der Regel nicht die Landapotheken mit räumlicher Alleinstellung, solitärem Versorgungsauftrag und komfortabler örtlicher Wettbewerbssituation, die schließen. Aufgegeben werden mehrheitlich unwirtschaftliche, weniger wettbewerbsfähige Betriebsstätten in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft und Konkurrenz zu anderen Apotheken.
Eine Untersuchung der Forschungsstelle für Apothekenwirtschaft in Essen zur Schließung von Apotheken in Baden-Württemberg stützt den Befund.[3] Geschlossen wurden dort vor allem Apotheken, die weniger als 500m Entfernung zur nächsten Apotheken aufwiesen. Die Schließungen fanden eher in dicht besiedelten Gebieten statt. Die geschlossenen Apotheken wurden von den Kunden im Netz schlechter bewertet und antworteten seltener auf Bewertungen als die am Markt verbleibenden.
Einer der Hauptgründe für die Abnahme der Betriebsstätten ist damit der Wettbewerb zwischen den Apotheken vor Ort. Das seit Jahren gepflegte Vorurteil, dass vor allem Online-Apotheken die Totengräber der Präsenzapotheke vor Ort seien, lässt sich dagegen nicht belegen. Die Zahl der Apotheken vor Ort ist zwischen 2010 und 2023 um fast 3900 zurückgegangen.
Im selben Zeitraum hat sich der Marktanteil der europäischen Online-Apotheken bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (RX) in Deutschland nicht etwa vergrößert, sondern von 1,3 Prozent auf 0,7 Prozent des Gesamtumsatzes auf ohnehin niedrigem Niveau fast halbiert. Das RX-Segment ist für die Vor-Ort-Apotheke aber die betriebswirtschaftlich entscheidende Größe und trägt im Durchschnitt knapp 84 Prozent zum Gesamtumsatz bei. OTC machen zwar ca. 45 Prozent aller abgegeben Arzneimittelpackungen aus, liefern aber durchschnittlich weniger als 8 Prozent des Umsatzes einer Apotheke. Aufgrund ihrer niedrigen Preise generieren sie oft nur kleine Deckungsbeiträge. Bei OTC liegt der Versandanteil bei gut einem Fünftel. Daran ist aber auch eine stetig wachsende Zahl von Apotheken vor Ort beteiligt. Ende 2023 hatten deutschlandweit knapp 3200 öffentliche Apotheken eine Versandhandelserlaubnis nach §11a Apothekengesetz. Auch wenn viele von ihnen nur überschaubare Umsätze im Versand machen, wird deutlich, dass die Hybridversorgung (vor Ort und online) immer mehr zum Normalfall wird. Eine Unterscheidung zwischen Online-Apotheke und Vor-Ort-Apotheke wird damit perspektivisch obsolet.
Im Übrigen haben die Schließungen von Betriebsstätten, die Umsatz, Kunden und Personal freisetzen, für die im Markt verbleibenden Apotheken positive Effekte. Sie können wachsen und meist rentabler arbeiten. Die wirtschaftliche Situation der Apotheken ist damit in Summe nicht schlecht. Pro Betriebsstätte wurden 2023 im Durchschnitt aus einem Umsatz von 3,4 Mio. Euro etwa 148.000 Euro Gewinn vor Steuern erwirtschaftet. Als Betriebsstätte gelten die ca. 13.000 Hauptapotheken ebenso wie die ca. 4.500 Filialen (2023). Die Filialen wirken als „Verdünner“ auf die Kalkulation. Rechnet man die Betriebsstättengewinne auf die einzelnen Inhaber um, lag deren Verdienst bei gut 200.000 Euro. Für das Jahr 2024 zeigen erste Berechnungen der Treuhand Hannover einen Anstieg des Umsatzes auf ca, 3,7 Mio. Euro und des Gewinns auf ca. 158.000 Euro pro Betriebsstätte.[4] Allerdings dürfen diese gemittelten Werte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Apothekenlandschaft immer heterogener wird. Auf der einen Seite gibt es eine wachsende Zahl von Apotheken, die weit über dem Umsatz- und Gewinndurchschnitt liegen. 13,5 Prozent der Betriebsstätten haben 2023 über fünf Mio. Euro erwirtschaftet. In der Regel sind es vor allem diese umsatzstarken Apotheken, die auch effizient arbeiten. Am anderen Ende des Spektrums gibt es die knapp zehn Prozent der Apotheken, deren Umsatz unter 1,5 Mio. Euro betrug. Etliche von ihnen werden in den nächsten Jahren im Sinne einer Marktkonsolidierung schließen.
Unabhängig von Schließungen werden andere Faktoren dazu beitragen, dass die Absicherung der pharmazeutischen Versorgung der Bevölkerung in den nächsten Jahren schwieriger wird. Denn erstens scheiden sukzessive die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer aus dem Erwerbsleben aus. Der Gesundheits- und Pflegebereich steht damit vor einer doppelten Herausforderung: Immer mehr Menschen müssen von immer weniger Personal betreut werden. Das betrifft neben der medizinischen Versorgung und der Pflege auch die Arzneimittelversorgung. Der Fachkräftemangel ist in der Pharmazie schon seit einigen Jahren deutlich spürbar, und selbst nach den konservativen Schätzungen der Bundesapothekerkammer fehlen bis Ende des Jahrzehnts mindestens 10.000 Pharmazeuten. Auch PTA sind „Goldstaub“ auf dem Arbeitsmarkt. Die Politik wird nicht umhin kommen, Antworten auf diese demografischen Fragen zu finden und intelligentere Versorgungsmodelle zu entwickeln.
Nach der Bundestagswahl
Bislang liegen diese Modelle nicht auf dem Tisch, und der eben zu Ende gegangene Bundestagswahlkampf war auch nicht die Zeit für fein ziselierte Konzepte. Die Wahlprogramme der Parteien haben erwartungsgemäß wenig Konkretes in Sachen Apotheke enthalten, zeigen aber zwei Strömungen auf. Die eine setzt primär auf die Verteidigung traditioneller Strukturen der Vor-Ort-Apotheken: CDU und CSU, die die nächste Bundesregierung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach anführen werden, wollen erwartungsgemäß „Präsenzapotheken … mit einer Apothekenreform stärken“. Die FDP fordert in dem impliziten Verständnis, dass Präsenzapotheken benachteiligt seien, „faire Wettbewerbsbedingungen zwischen Vor-Ort-Apotheken und dem Versandhandel“. Und die AFD würde den „Versandhandel mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln“ gerne gleich wieder ganz abschaffen. Die andere Strömung stellt anstelle der reflexhaften Strukturdebatte die eigentlichen Versorgungsfragen in den Vordergrund: So will die SPD „die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen auch durch den Einsatz von Telemedizin und Telepharmazie verbessern.“ Die Grünen möchten „die Finanzierung der Apotheken … im Hinblick auf eine gute, flächendeckende und effiziente Versorgung reformieren“. Wie die Linke setzen sie außerdem auf höhere Freiheitsgrade für Apotheker und andere Heilberufe.
Die ABDA hat als Spitzenverband der Apothekerschaft ihre bekannten Forderungen zur Wahl erneut bekräftigt: Das Apothekensystem soll strukturell unangetastet bleiben und mit mehr Geld bzw. zusätzlichen Kompetenzen und Aufgaben für Pharmazeuten unterstützt werden. Die Krankenkassen(verbände) hingegen sperren sich gegen jede Ausgabe, die keine nachweisliche Verbesserung der Versorgung bringt, und fürchten unwirtschaftliche Überschneidungen in der Tätigkeit von Arzt und Apotheker. Vehement verweisen sie auf ihre desolate Finanzlage und fordern deutliche Einsparungen.
Spardiktat und Vergütungsfragen
Und zweifelsohne ist die Situation der GKV ernst. Trotz kräftig sprudelnder Beitragszahlungen hat sich die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter geöffnet. Trotz hoher Pro-Kopf-Ausgaben liegen die Versorgungsergebnisse international nur noch im Mittelfeld. Selbst die drastische Erhöhung des Zusatzbeitrages um 0,8% für das Jahr 2025 wird nicht ausreichen, um die Ausgaben zu decken. Wenn die deutsche Wirtschaft weiter schwächelt, sinken die Einnahmen der Sozialkassen, und das Delta wird noch größer. Die Abgabenquote liegt schon jetzt weit jenseits der 40 Prozent, und größere Finanzspritzen des Fiskus ins Gesundheitssystem sind angesichts der Haushaltslage kaum darstellbar. Die nächste Bundesregierung wird also nicht umhinkommen, die Ausgabenseite in den Griff zu bekommen und dabei jeden Stein umzudrehen.
Eine umgehende Eindämmung der Kosten hat man in früheren Legislaturperioden gerne über Vorschaltgesetze geregelt, denen dann sukzessive strukturelle Reformen folgten. Ob das heuer so kommt, sei dahingestellt, aber in jedem Fall wird es eine Spardebatte geben, die alle Sektoren erfasst und Kürzungen bei Leistungserbringern thematisiert. Die Ausgaben der GKV für Arzneimittel sind 2024 um fast zehn Prozent auf knapp 54 Mrd. Euro angewachsen und damit einer der größten Posten in der GKV. Natürlich entfällt der Löwenanteil auf die Hersteller, die eine Neuauflage bekannter Diskussionen im Spannungsfeld zwischen Standortsicherung und Lieferengpässen einerseits und der Anhebung des Herstellerabschlags, der Preisfestsetzungsverfahren und Rabattverträge andererseits erwarten dürfen. Aber auch die Ausgaben für die Distribution der Arzneimittel dürften wieder ins Blickfeld geraten.
Apotheken waren und sind mit ca. 2 Prozent nur für einen kleinen und relativ stabilen Anteil der GKV-Leistungsausgaben der GKV verantwortlich. Aber gerade dieser Tage trat eine ausgabenwirksame Maßnahme in Kraft. Im Zuge des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes war der Abschlag, den Apotheken für jede mit der GKV abgerechnete Arzneimittelpackung in Kauf nehmen müssen, für zwei Jahre von 1,77 auf 2,00 Euro erhöht worden. Der Einspareffekt betrug über 100 Mio. Euro jährlich. Zum 1. Februar 2025 ist die Regelung ausgelaufen und der Abschlag wieder auf den alten Wert gesunken. Die Idee, dieses einfache und effektive Instrument im Zuge einer allgemeinen Sparrunde wieder einzusetzen, dürfte für manchen Gesundheitspolitiker einen gewissen Reiz haben. Deutlich sinnvoller wäre es allerdings, stattdessen die Reserven zu heben, die ungenutzt im System liegen.
Die Krankenkassen bezahlen seit Ende 2021 jedes Jahr ca. 150 Mio. Euro in einen Fonds für die Vergütung der neuen pharmazeutischen Dienstleistungen ein, die Apotheken seit 2022 erbringen dürfen. Doch die Dienstleistungen werden von Patienten kaum nachgefragt, nur von ca. einem Drittel der Apotheken angeboten und zudem nicht vergütet, wenn sie telepharmazeutisch erbracht werden. Deshalb sind die Mittel in dem Fonds mittlerweile etwa auf eine halbe Milliarde Euro angewachsen. Erste Krankenkassen haben bereits vorgeschlagen, den Fonds aufzulösen und die Dienstleistungen direkt zwischen Apotheken und Krankenkasse abzurechnen. Zu Beginn der neuen Legislaturperiode wird der Druck zunehmen, die Fondsreserven zu heben bzw. für andere Versorgungsziele sinnvoll einzusetzen.
Um den Apotheken solche unpopulären, strukturverändernden Maßnahmen schmackhaft zu machen, hätte der Normgeber einen einfachen, für die GKV ausgabenneutralen Hebel an der Hand. Er könnte durch eine Änderung der Arzneimittelpreisverordnung dafür sorgen, dass sie wieder umfangreichere Vergünstigungen durch den Großhandel bekommen können. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte am 8. Februar 2024 entschieden, dass pharmazeutische Großhändler beim Verkauf von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln unter der geltenden Rechtslage an Apotheken keine Skonti gewähren dürfen, die den festgelegten Großhandelszuschlag von 3,15 Prozent übersteigen. Vielen Apotheken gingen dadurch erhebliche Einkaufsvorteile verloren, die direkt auf die Gewinnmarge wirken. Die „Heilung“ des BGH-Urteils wäre deshalb mehr als willkommen.
Naheliegend wäre auch ein weiterer, bisher aus sozialpolitischen Gründen gescheuter Schritt, der Apotheken nur mittelbar betrifft. Sie ziehen für die Krankenkassen die Selbstbeteiligung der Versicherten bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ein. Diese beträgt seit 2004 unverändert 10 Prozent des Arzneimittelpreises, mindestens aber 5 und höchstens 10 Euro. In den letzten 20 Jahren sind Löhne und Gehälter um ca. 60 Prozent gestiegen, die relative Belastung der Patienten durch die Zuzahlung hat daher stark abgenommen. Eine Erhöhung der Zuzahlungen wäre nachvollziehbar, zumal stark belastete Patienten durch die einkommensabhängige Zuzahlungsbefreiung geschützt werden können. Eine Anhebung des Korridors auf 7,50 bis 15 Euro würde die GKV schätzungsweise um ca. eine Milliarde Euro entlasten. Gut möglich also, dass die Debatte hier ansetzt.
Jenseits konkreter Sparmaßnahmen bleibt aber die Grundsatzfrage einer Vergütungsreform, die die richtigen Steuerungseffekte im System setzt, also Versorgung sichert, Versorgungsqualität belohnt und zugleich möglichst wenig Mittel für unwirtschaftliche Strukturen und Prozesse vergeudet. Im jetzigen Vergütungssystem steht die Politik vor einem Dilemma: Hebt sie das packungsbezogene Fixum nach mehr als einem Jahrzehnt Stagnation an, profitieren große, wirtschaftlich gesunde Apotheken davon stets am meisten. Zugleich werden unwirtschaftliche Betriebe, deren Schließung ökonomisch eigentlich folgerichtig wäre, für eine weitere Zeit alimentiert. Im Apo-RG wollte Minister Lauterbach die Flächendeckung daher auch auf Umwegen fördern: Von der Absenkung des prozentualen Vergütungsanteils versprach man sich eine gewisse Umverteilung des Honorarvolumens von Stadt- auf Landapotheken.
Dahinter stand die Annahme, dass Apotheken in urbanen Räumen von diesem Vergütungselement stärker profitieren als Landapotheken, weil sie mehr Fachärzte in der Nähe haben, die hochpreisige Arzneimittel verordnen. Hinzukommen sollte ein zweites Element: Da versorgungswichtige Apotheken mit lokalem Alleinstellungsmerkmal öfter Nacht- und Notdienste leisten müssen als solche an Orten mit hoher Apothekendichte, wollte Lauterbach die Vergütung für den Nacht- und Notdienst mit Mitteln aus dem Dienstleistungsfonds deutlich anheben, obwohl die Leistung an sich damit schon fast übersubventioniert worden wäre.
An diesem Vorgehen offenbart sich, woran die Reformdiskussion eigentlich krankt: Es gibt keine klaren Kriterien für eine bedarfsgerechte flächendeckende Versorgung, keine sozialräumlichen Untersuchungen für die Entwicklung des tatsächlichen Versorgungsbedarfs in den nächsten Jahren, kaum messbare Qualitätsindikatoren und keine vernünftigen Werkzeuge zur Angebotssteuerung. Was es zuerst bräuchte, ist ein auf validen Daten basierender Versorgungsatlas, auf dessen Fundament die Vergütung so gestaltet werden kann, dass sie Steuerungsimpulse für das Arzneimittelversorgungssystem entfaltet und lokale Unterversorgung verhindert.
Überfällige Digitalisierung
Bei der Absicherung der Versorgung wird man auch konsequenter auf die Potenziale der Digitalisierung setzen müssen. Während die Telemedizin mit geordneten Zugängen und eigenem Vergütungsfundament immer mehr zum Teil der ärztlichen Regelversorgung wird, wird die Telepharmazie noch immer stiefmütterlich behandelt. Telekonsile zwischen Fachpersonal und die digital gestützte Betreuung von Patienten müssen aber auch in der Apotheke Einzug halten.
Telepharmazie erlaubt eine optimale Nutzung knapper Betreuungsressourcen, da pharmazeutisches Fachpersonal ortsunabhängig den Bedarf der Patienten in ganz Deutschland adressieren kann. Besonders chronisch kranke und in ihrer Mobilität eingeschränkte Patienten sowie Menschen in Regionen mit schwacher Versorgungsinfrastruktur bzw. weiteren Wegen zur nächsten Präsenzapotheke können davon profitieren. Die telepharmazeutische Beratung in der stressfreien häuslichen Umgebung bedeutet zudem ein hohes Maß an Diskretion für die Patienten. Damit Telepharmazie zu einer zweiten tragenden Säule der Versorgung werden kann, muss sie diskriminierungsfrei in das Sozialrecht einbezogen werden. Es braucht eine technologieoffene Definition und die Förderung hybrider Versorgungsangebote.
Die selbstständige Arbeit von PTAs in Filialapotheken, die für Rückfragen per Video mit einem Apotheker oder einer Apothekerin verbunden sind, sollte kein No-Go sein. Vielmehr sollte videogestütztes Arbeiten für PTAs und Apotheker auch außerhalb der Apotheke erleichtert werden. Viele ihrer typischen Aufgaben wie Rezeptüberprüfung und Beratungstätigkeiten können ortsunabhängig bei gleicher Sicherheit und Qualität erledigt werden. Auf diese Weise könnten die Berufsbilder attraktiver gestaltet und eine „stille Reserve“ am Arbeitsmarkt für Teilzeitbeschäftigte gehoben werden. Mit dem gezielten Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) für Routineaufgaben können knappe Fachkräfteressourcen stärker auf die wichtigen und unmittelbar patientenbezogenen Aufgaben konzentriert werden.
Damit die Telepharmazie ihre Potenziale voll entfalten kann, braucht es aber zunächst einen beschleunigten Ausbau der Telematikinfrastruktur. Die laboriert nach wie vor an einem historischen Geburtsfehler: Die Authentifizierung der Teilnehmer und die Vergabe von Zugriffsrechten auf Gesundheitsdaten ist noch immer weitgehend an physische Nachweismittel gebunden. Volldigitale Betreuungsstrecken sind nicht möglich, weil der Patient mit seiner elektronischen Gesundheitskarte (eGK) in die Apotheken oder die Arztpraxis kommen muss, um sich auszuweisen oder Leistungen auslösen zu können.
Mit CardLink wurde eine Übergangstechnologie geschaffen, die die Einlösung von E-Rezepten über Handy, ohne aufwändige PIN-Verfahren und ohne physische Anwesenheit des Patienten bzw. seiner Karte erlaubt. Aber die Zulassung für diese Übergangstechnologie wurde nur bis zum Frühjahr 2026 erteilt. Dahinter stand die Hoffnung, dass bis dahin alle GKV-Versicherten eine elektronische Gesundheits-ID haben, mit der sie sich elektronisch ausweisen und Heilberuflern Zugriffsrechte auf ihre Daten erteilen können. Erfüllen wird sich diese Hoffnung aber wahrscheinlich nicht. Derzeit haben nur 2-3 Prozent der Versicherten eine solche ID, und der Rollout verläuft aufgrund der komplizierten Verfahren sehr schleppend.
Wird CardLink, das nicht nur von Online-Apotheken, sondern auch mehreren tausend Apotheken vor Ort genutzt wird, nicht verlängert, werden die Patienten ab April 2026 wieder in die Apotheke marschieren müssen, um ihr E-Rezept einzulösen. Die fast identische Problematik ergibt sich beim Rollout der elektronischen Patientenakte (ePA) erneut. Apotheken brauchen Zugriff auf die ePA, in der sich der elektronische Medikationsplan der Patienten befinden wird. Ihn müssen sie aktualisieren können, wenn sie Arzneimittel abgeben. Aber wie anfangs bei der Einführung des E-Rezeptes ist auch bei der ePA die Erteilung von Zugriffsrechten bisher nur möglich, wenn der Patient seine eGK in das Lesegerät der Apotheke steckt.
Durch die jüngst verkündete Streckung des Zeitplans für den ePA-Rollout (die Nutzung des Medikationsplans ist jetzt für März 2026 vorgesehen) hat sich die Problematik zeitlich zwar etwas entschärft. In der Sache gelöst ist sie aber nicht, und jede weitere Verzögerung bringt Deutschland gegenüber den europäischen Nachbarn, die elektronische Patientenakten mit einfachen Zugriffswegen teilweise schon vor über zwanzig Jahren eingeführt haben, weiter ins Hintertreffen.
Regulierung und Liberalisierung
Neben den technologischen gibt es auch sozio-ökonomische Veränderungen, auf die die Politik reagieren muss. In der Generation Z haben sich Wertevorstellungen verändert. Sie möchten flexibel, ortsunabhängiger und mit einer guten Work-life-Balance arbeiten. Auch in der Pharmazie ist der Nachwuchs digital affin, sucht eher die Arbeit im Team und ist zusehends weniger bereit, ein arbeitsintensives Einzelkämpferdasein als Alleininhaber zu führen. Zugleich wird der Verkauf bzw. das Finden eines Nachfolgers für die stetig größer werdenden Apotheken immer schwerer, da hohe Kreditvolumina erforderlich sind. Wollen sich mehrere Apotheker zur Leitung eines Betriebs zusammentun, haben sie dafür bisher keine wirklich brauchbare Rechtsform. Aus den Reihen der FDP wurde daher bereits vorgeschlagen, GmbHs zuzulassen, denen allerdings nur Pharmazeuten als Gesellschafter angehören dürfen sollen, damit das Fremdbesitzverbot nicht in Frage gestellt wird.
Auch die im Gesetzgebungsprozess zum Apo-RG schon angedachten Erleichterungen der Filialisierung, mithin die moderate Lockerung des Mehrbesitzverbotes, könnte einen Beitrag zur Versorgungssicherung leisten. Die Zahl der maximal erlaubten Filialen (bisher drei pro Inhaber) könnte etwas erhöht, die Vorgaben für deren räumliche Nähe könnten gelockert werden. Weniger strikte Vorgaben zur Anwesenheit eines Approbierten, der Verzicht auf die Vorhaltung eines Labors und reduzierte Öffnungszeiten könnten den Betrieb von Filialen einfacher und rentabler machen.
Viel wird darüber diskutiert, dass man den Apothekerberuf durch eine Ausweitung der fachlichen Handlungsspielräume wieder attraktiver machen und damit dem Fachkräftemangel begegnen könnte. Mit der Etablierung neuer Aufgaben und Kompetenzen hofft man zudem, Defizite an anderen Punkten in der ambulanten Patientenversorgung ausgleichen zu können. Doch angesichts der wenig ermutigenden Erfahrungen mit der Einführung pharmazeutischer Dienstleistungen seit 2022 und des akuten Personalmangels ist Skepsis angebracht, ob die Apotheken weitere Aufgaben wirklich bewältigen werden.
Mit dem Digitalgesetz wurde beschlossen, dass Apotheken Patienten bei der Inanspruchnahme von telemedizinischen Angeboten unterstützen können. Vergütung und Details der Leistungen sind bis April 2025 zwischen dem Deutschem Apothekerverband und dem (in der Sache skeptischen) GKV-Spitzenverband zu verhandeln. Sie werden der nächste Lackmustest für Veränderungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Apotheken sein.
Perspektiven
Während dieser Beitrag entstand, war noch unklar, wie der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung aussehen wird, wie Ressorts zugeschnitten werden, wie Gesundheit besetzt wird und welche Kompetenzen dem neu vorgesehenen Digitalministerium zufallen. Die Herausforderungen an sich aber sind klar: Die Effizienz des Gesundheitssystems muss verbessert, die Ausgaben müssen reduziert werden, um den ‚Babyboomer-Shift‘ zu verkraften. Der Digitalisierung kommt dabei eine Schüsselrolle zu, auch in der Arzneimittelversorgung. Versorgungsfragen müssen weniger ideologisch und stärker datenbasiert adressiert werden. Gesellschaftliche Veränderungen sind anzuerkennen.
Die Gesundheitspolitik der nächsten Monate wird sich vor dem Hintergrund einer lahmenden Volkswirtschaft, eines enormen Investitionsstaus in der Infrastruktur des Landes und der Diskussion um drastisch steigende Ausgaben für Verteidigung und internationale Sicherheit sowie der Instrumente zu ihrer Finanzierung abspielen. CDU und SPD wollen 500 Milliarden Euro zusätzliche Schulden aufnehmen, um die existenziellen Aufgaben zu stemmen. Auch Krankenhausinvestitionen sollen daraus finanziert werden.
So mancher wird darauf hoffen, dass das den Druck auf das Gesundheitssystem reduziert. Aber noch ist das Finanzpaket nicht Realität, und wenn es kommt, wird die Zinslast die Spielräume der öffentlichen Haushalte auf viele Jahre reduzieren. Ab 2028 müssen außerdem die während der Corona-Pandemie und der Ukraine-Invasion aufgenommenen Notlagenkredite von 300 Mrd. Euro getilgt werden. Vor dieser Folie kann die vorrangige Frage in der Gesundheitspolitik eigentlich nicht mehr darin bestehen, wie man das derzeitige Versorgungssystem konserviert. Die eigentliche Frage lautet, ob Versorgung für die nächsten Jahre mit wenig Fachkräften und ohne frisches Geld gesichert werden kann, und welche Strukturen und Prozesse dafür anzupassen sind. Deshalb wird die schwierigste gesundheitspolitische Aufgabe der neuen Regierung wohl darin liegen, den starken Beharrungskräften im System beherzt zu begegnen. Ein „weiter so“ wird es dieses Mal kaum geben können.
[1] Diese und die im Folgenden angeführten Zahlen sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus dem statistischen Jahrbuch der ABDA „Die Apotheke – Zahlen, Daten, Fakten 2024“ entnommen.
[2] Vgl. https://www.abda.de/fileadmin/user_upload/assets/Pressetermine/2024/DAV-WiFo-2024/Apothekenwirtschaftsbericht_2024.pdf
[3] Vgl. https://apowi.net/aktuelles/einzelansicht/beitrag-zum-rueckgang-der-apothekenzahl-in-baden-wuerttemberg-in-der-daz-erschienen-24001/
[4] Vgl. Wie wird 2025 für die Apotheken | PZ – Pharmazeutische Zeitung
* Der Autor vertritt seine persönliche Meinung.
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