Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Sektorenübergreifende Versorgung“ vor der Reaktivierung

Grundlagen, Stand und Ziele zur Umsetzung einer sektorenübergreifenden Versorgung in dieser Legislaturperiode

Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a. D.

Es geht wieder los: Nach der fast ausschließlich gesetzgeberischen Abarbeitung der Coronakrise hat das BMG bis zum Jahresende fünf Gesetzesvorhaben angekündigt, die unabhängig oder über den Zeitraum der Bewältigung der Epidemie hinausgehend sind.

Die Zeichen mehren sich, dass die Gesetzesproduktionsmaschine des BMG wieder Fahrt aufnimmt. In den letzten Tagen sind mit Entwürfen zum MTA-Gesetz, dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) und dem Versorgungsverbesserungsgesetz (GPVG) einige Dickschiffe und Omnibusse auf den Tisch gebracht worden. Da stört es wenig, dass mit dem KHZG noch ein Bezug zum Corona-Konjunkturpaket aus dem Juni abgearbeitet wird, da die Inhalte des Gesetzes auch unabhängig von der aktuellen Situation in die vom BMG favorisierte Grundrichtung (Digitalisierung und Kooperation über Digitalisierung) angepasst sind.

 

Selektivverträge für regionale Versorgung und Innovationsfonds-Projekte anpassen

Zukunftsgerichtet sind auch einige Teile des neuen Omnibusgesetzes GPVG. Hier werden unter anderem – etwas versteckt – erweiterte Möglichkeiten für Selektivverträge eröffnet, die künftig auch „Vernetzung über die Grenzen der gesetzlichen Krankenkassen“ hinaus ermöglichen. Was heißt das? Demnach können Selektivverträge künftig über die verschiedenen Sozialversicherungszweige eine übergreifende Versorgung abdecken und zum Beispiel gemeinsame Projekte mit den Sozialhilfeträgern der Länder und Kommunen umfassen. Gesundheit wird also hiermit ganzheitlicher, regionaler und sozialer möglich. Dies dient explizit der Berücksichtigung von speziellen regionalen Versorgungssituationen, die nur mit den medizinisch/pflegerischen Mitteln, die im SGB V und XI verankert sind, nicht erreicht werden können. Und wir haben viele solcher Regionen in Deutschland. Der Gesetzesentwurf schafft für die Krankenkassen mehr rechtliche Sicherheit, sich für solche Projekte zu engagieren.

Ein Hintergrund dieser Änderung ist die Tatsache, dass immer mehr relevante, regional ausgerichtete Innovationsfonds-Projekte der ersten Stunde auslaufen, von den Krankenkassen und allen Beteiligten als erfolgreich angesehen und deshalb  fortgeführt werden sollen. Bevor der eigentlich vorgesehene zeitintensive Mechanismus zur Übernahme in die Regelversorgung nach Evaluation und neuer Entscheidung des G-BA „durch“ ist, bedarf es einer Absicherung in der Zwischenzeit. Das dafür mögliche Instrument der Selektivverträge nach § 140a SGBV erwies sich als extrem sperrig, da insbesondere das BVA, heute BAS, keine Bereitschaft zeigte, die neuen Elemente dieser Versorgung bei den Krankenkassen im Rahmen von Selektivverträgen zu akzeptieren. Beispielsweise haben viele dieser Projekte Gesundheitslotsen o.ä. als Bindeglieder zwischen der vertragsärztlichen Versorgung und der sozialen Realität eingeführt, was aber vom BAS im Rahmen der Vorprüfung der 140a-Verträge nicht akzeptiert wurde, da es sich nicht um „zugelassene Leistungserbringer“ handele. Auch hier schafft die Gesetzesinitiative Klarheit.

Einen ersten Anlauf für diese rechtlich wohl notwendige Korrektur gab es bereits im Mai. Hier sollte von den Parlamentariern über eine Formulierungshilfe kurzfristig das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz ergänzt werden. Dies wollten die Parlamentarier aufgrund der notwendigen internen Diskussion so nicht „eben mal“ durchwinken. Jetzt aber gibt es einen 2. Anlauf, und es ist anzunehmen, dass der jetzige Entwurf im GPVG besser parlamentarisch vorbereitet ist.

Die neue Gesetzesinitiative hat einen deutlichen Bezug zum Koalitionsauftrag der Verstärkung der sektorenübergreifenden Versorgung und kann insofern als ein erster gesetzgeberischer Schritt in diese Richtung begrüßt werden.

 

Sektorenübergreifende Versorgung als Auftrag im Koalitionsvertrag

Bekanntlich wurde das Thema der sektorenübergreifenden Versorgung im Koalitionsvertrag 2018 prominent und breit verankert. Man muss sich noch einmal vergegenwärtigen, welche Überlegungen damals zur Formulierung dieses Auftrages im Koalitionsvertrag zielführend waren:

  1. Das Gesundheits- und Pflegesystem ist stärker an den Behandlungsnotwendigkeiten der Patienten und weniger an den sich abgrenzenden, eigenen Interessen der Sektoren und deren Institutionen auszurichten.
  2. Wir reden seit mehr als 40 Jahren von der Notwendigkeit einer zu stärkenden sektorenübergreifenden Versorgung. Punktuelle Modelle und Minilösungen gibt es genug: von der Ermächtigung über das Belegarztwesen bis zum Innovationsfonds. Keine dieser „Sonderlocken“ hat je einen relevanten Versorgungsanteil erzielt. Sie konnten sich aufgrund des Beharrungsvermögens des Gesamtsystems nicht durchsetzen. Deshalb soll die sektorübergreifende Versorgung jetzt systemisch verankert werden.
  3. Jahrzehntelang haben die einzelnen Sektoren ihre eigenen „Gesetze“ in Form unterschiedlicher Vergütungssysteme, Leistungsberechtigungen, Datenerhebungen (inklusive Digitalisierung) mit unterschiedlicher Qualitätssicherung, fehlender Koordination oder getrennter Bedarfsplanung entwickelt. Die Sektoren sprechen nicht dieselbe Sprache. Dies ist aber eine Grundvoraussetzung für eine durchgängige, übergreifende Versorgung. Diese Grundlagen sind also über die Sektorengrenzen hinweg zusammenzuführen. Sonst kann sektorenübergreifenden Versorgung nicht oder nur als Bürokratiemonster (wie man bei der ASV schmerzhaft erleben muss) realisiert werden.
  4. Gesundheit wird im Wesentlichen regional erbracht. Deutschland ist unterschiedlich. Vom Patienten aus denken, heißt deshalb regional denken. Sektorenübergreifende Versorgung muss sich deshalb vor allem auf überschaubare Populationsgrößen beziehen.

 

Im Ergebnis führte dies zu folgender Passage im Koalitionsvertrag:

„Die Zusammenarbeit und Vernetzung im Gesundheitswesen müssen ausgebaut und verstärkt werden. Für eine sektorenübergreifende Versorgung wollen wir weitere nachhaltige Schritte einleiten, damit sich die Behandlungsverläufe ausschließlich am medizinisch-pflegerischen Bedarf der Patienten und Patienten ausrichten. Wir werden eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Einbeziehung der Regierungsfraktionen im Deutschen Bundestag einrichten. Diese Arbeitsgruppe wird Vorschläge für die weiteren Entwicklung zu einer sektorenübergreifenden Versorgung des stationären und ambulanten Systems im Hinblick auf Bedarfsplanung, Zulassung, Honorierung, Kodierung, Dokumentation, Kooperation der Gesundheitsberufe und Qualitätssicherung unter Berücksichtigung der telematischen Infrastruktur bis 2020 vorlegen. Dabei sollen Spielräume für regionale Ausgestaltungen ermöglicht werden.“

 

Beratungen und Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe

Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BLAG) wurde dann auch 2018 eingerichtet und erhielt die übliche Arbeitsgruppenstruktur:

  • eine „politische Runde“ zur Festlegung der Agenda und Entscheidung über die Eckpunkte der Ergebnisse auf Ministerebene von Bund und Ländern nebst beteiligten Ressorts und Regierungsfraktionen
  • darunter eine „fachlich große Runde“ auf Abteilungsleiter- und Referatsleiterebene (inzwischen) aller Gesundheitsressorts der Länder und des BMG (sowie die Arbeitsebene der Regierungs-Fraktionen)
  • sowie eine „fachliche kleine Runde“ beziehungsweise der Vorbereitungskreis, bestehend aus den A/B Koordinationen der Länder und der Abteilungsleitung des BMG.

Im Mai 2019 legte die BLAG ein erstes Eckpunktepapier vor, das politisch geeint wurde. Danach sollten

  • ambulante Versorgungsaufträge für stationäre Versorgungseinrichtungen insbesondere bei „kleinen“ Krankenhäusern vermehrt ermöglicht werden,
  • ein gemeinsamer fachärztlicher Versorgungsbereich für Leistungen erschlossen werden, die sowohl ambulant als auch stationär erbracht werden, sowie
  • eine gezielt geförderte Kooperation zwischen hausärztlichen Leistungen und der ambulanten häuslichen Krankenpflege aufgebaut werden.

Die Notfallversorgung wurde zwar ebenso in der Thematik der BLAG gesehen, sollte aber zur Beschleunigung separat behandelt werden. Hierzu existieren bereits umfangreiche gesetzgeberische Vorarbeiten, allerdings auch noch viel Klärungsbedarf (Referentenentwurf in der Abstimmung).

 

Meilensteine

Im Herbst sollen auch konkretisierte Vorstellungen zum Leistungsumfang eines gemeinsamen fachärztlichen Versorgungsbereiches vorliegen. Dieser soll einen Kanon von häufigen Leistungen beinhalten, die sowohl ambulant als auch stationär erbracht werden, aber bis heute unterschiedlich vergütet, unterschiedlich qualitätsgesichert, unterschiedlich dokumentiert und unterschiedlich bedarfsgeplant werden. Für diese Diagnosen sollen einheitliche Grundlagen verbindlich vorgegeben werden, so dass künftig nur diese neue Form der sektorenunabhängigen Leistungserbringung möglich sein wird. Das Potential umfasst bis zu 20 % der heutigen Krankenhausfälle, ist also nicht ganz klein.

Auch der Auftrag, die bisher nur zu selten abgestimmte und oft mehr zufällig ausgestaltete Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Hausärztinnen einerseits und den ambulanten Pflegediensten andererseits besser zu koordinieren, ist ein lebenspraktisch wichtiger Schritt zur Überwindung einer den Interessen der PatientInnen zuwiderlaufenden Sektorengrenze. Die heutige Realität, dass der Hausarzt einen Stapel Rezeptanforderungen vom Pflegedienst für Hilfs- und Heilmittel zur Unterschrift erhält und der Pflegedienst keine Informationen z.B.  über veränderte Therapieschemata kennt, führt zu gegenseitigem Frust und mühevollen Klärungen. Das geht besser, wie zum Beispiel die Realität der Kooperation in der speziellen Palliativ-Versorgung (SPV) zeigt. Auch hier kann über eine geregelte Kooperation, die dann zusätzlich vergütet wird, Zusammenarbeit verbindlich verabredet und erleichtert werden – ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der medizinisch/pflegerischen Behandlungsabläufe, wie im Koalitionsvertrag gefordert.

 

Vom Eckpunktepapier zum Fortschrittsbericht

Das Eckpunktepapier verspricht also einige wichtige und richtige Schritte, fällt aber meilenweit hinter den umfassenden Auftrag des Koalitionsvertrages zurück. Deshalb war es den Ländern wichtig, ein zweites Paket (und gegebenenfalls noch ein weiteres) auf den Weg zu bringen, um die sektorenübergreifende Versorgung in Deutschland spürbar zu stärken und zur Norm zu entwickeln.

Die bis zu diesem Zeitpunkt Mitte 2019 geeinten Eckpunkte stellten im Wesentlichen eine verbesserte Kooperation zwischen den Institutionen dar, erfüllten aber eben nicht das vom Koalitionsvertrag vorgegebene Ziel, sich an den Behandlungsverlauf im medizinisch/pflegerischen Bedarf auszurichten (sieht man einmal vom Beispiel der verbesserten hausärztlichen/ambulanten pflegerischen Versorgung ab).

Um eine durchgehende, koordinierte und informierte Behandlung durch die verschiedenen Versorgungsstufen für die Patienten zu entwickeln und dies nicht als Zufall oder als bruchstückhafte Episode erscheinen zu lassen, musste nachgebessert werden.  Dazu gab es einen intensiven und vertieften Diskussionsbedarf in den fachlichen Arbeitsgruppen der BLAG. Man wollte schließlich nicht weniger als eine Tür für ein anderes, von den Behandlungsinteressen der Patienten gesteuertes System aufstoßen. Deshalb wurde als weiteres Zwischenergebnis ein „Fortschrittsbericht“ im Januar 2020 vorgelegt, der neue Zielvorgaben, aber noch keine Eckpunkte umfasste. Additiv wurden u.a. aufgenommen:

  • die Option für eine Übergangs- oder Kurzzeitpflege im Krankenhaus nach Krankenhausbehandlung
  • eine bewehrte Verpflichtung zur Durchführung des Entlassungsmanagements durch die Krankenhäuser
  • eine Optimierung der Versorgungssituation in der Kinder- und Jugendmedizin
  • eine Aufwertung der psychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten in den psychiatrischen Institutsambulanzen
  • eine Ausschöpfung von Ambulantisierungspotenzial für die sogenannten kleinen Fächer (HNO, Augenheilkunde, Dermatologie)
  • eine Optimierung des Belegarztwesens.

 

Zukunftsweisende Arbeitsaufträge

Besonders hervorzuheben sind allerdings zwei klar zukunftsweisende, zusätzliche Arbeitsaufträge:

  • eine Verbesserung der ärztlichen Kooperation und Koordination und
  • unterstützende Leistungen zur Verbesserung der Compliance medizinischer und pflegerischer Behandlungsempfehlung.

Was verbirgt sich dahinter? Eine Verbesserung der Koordination berührt genau das, was der Koalitionsvertrag wünscht: nämlich eine Ausrichtung der Gesundheitsversorgung an den Behandlungsabläufen. Hier soll für die Primärmedizin wie auch für die über die hausärztliche Ebene hinausgehenden Behandlungsbedarfe eine eindeutige Zuweisung der ärztlichen Koordinatorenrolle die  Patientenbegleitung und -unterstützung geregelt werden.

Für die spezialärztliche Versorgung kann zwischen drei Fallkonstruktionen unterschieden werden, bei denen die sonst notwendige umfassende hausärztliche Koordination ergänzt wird:

  1. Kurzzeitiger spezialärztlicher Bedarf, der geplant und im Zeitablauf abschätzbar ist (zum Beispiel Routineoperationen) und danach regelhaft wieder in der hausärztlichen Grundversorgung einmündet.
  2. Schwere akute oder langfristige Erkrankungen, verbunden mit der Annahme, dass eine künftige Weiter- bzw. Mit-Behandlung im hausärztlichen Rahmen zu einem späteren Zeitpunkt zu erwarten ist (zum Beispiel schwere Pneumonie, Krebserkrankung, schwerer Unfall).
  3. Lebensbegleitende chronische Erkrankungen, die eine bis zum Lebensende notwendige besondere Expertise verlangt (zum Beispiel Dialysebehandlung bei Nierenversagen, Mukoviszidose).

Für alle diese Fallkonstruktion ist es notwendig, temporär oder dauerhaft dem Patienten eine für die jeweilige Krankheitsepisode optimale und umfassende medizinisch/pflegerische Leistung sowie die damit verbundene notwendige Koordinierung („aus einer Hand“) anbieten zu können. Der jeweils für die Behandlung ausgewiesene koordinierende Arzt hat für die jeweilige spezialärztliche Behandlungszeit die gleichen Aufgaben wie die lebensbegleitende Koordination des Hausarztes. Er soll den Patienten umfassend durch die Behandlung, die wie bei einer Krebserkrankung bis zu 40 unterschiedliche Professionen umfassen kann, leiten und für diese als federführende FachexpertIn und AnsprechpartnerIn zur Verfügung zu stehen. Zwischen beiden Ebenen, dem temporären spezialärztlichen Koordinationsbedarf und dem dauerhaften primärärztlichen Koordinierungsauftrag, bedarf es festgelegter Spielregeln, die selbstverständlich eine gegenseitige Information umfassen.

Solche Koordinationsfunktionen sind dem Patienten als von ihm wählbares Angebot zu unterbreiten; was, wenn er sich dafür entscheidet, im Gegenzug eine Verbindlichkeit und Bindung für den ärztlichen Koordinator und den Patienten umfasst. Entsprechende Vergütungselemente für diese umfassende Versorgung sind in Form von Koordinationspauschalen wie schon im ersten Eckpunktepapier für die Schnittstelle hausärztliche Medizin / ambulante Pflege vorgesehen, also ein machbares Werkzeug. Diese Neuerung ist wohl für die jeweilige Patienten eine zentrale Verbesserung, weil mit der Klärung der Verantwortlichkeit für die jeweiligen Behandlungsabläufe ein einheitlicher Ansprechpartner unabhängig von den fachlich notwendigerweise zu beteiligenden Institutionen und Sektoren zur Verfügung steht.

 

Koordination und Compliance als umsetzbare Leitmotive

Gesundheit ist aber bekanntlich nicht eindimensional medizinisch/pflegerisch zu  wahren oder zu erzielen, sondern hat eine hohe soziale, individuelle und gesellschaftliche Komponente. Dem trägt der zweite hervorzuhebende Arbeitsauftrag aus dem Fortschrittsbericht Rechnung. Hier soll additiv zur medizinischen Versorgung eine der jeweiligen Lebenssituation der Patienten angepasste Unterstützungsfunktion durch nicht notwendigerweise medizinisches Personal erfolgen. Dieser „Lotse“ soll als Mittler zwischen dem ärztlichen Rat, Empfehlung oder Therapie und der komplexen Lebenssituation insbesondere von Patienten in speziellen sozialen und räumlichen Settings dienen. Ziel ist eine verbesserte Compliance für die medizinisch/pflegerischen Notwendigkeiten trotz der oft widrigen Lebensumstände und der sozialen Situation. Die wissenschaftliche Erkenntnislage zum Erfolg solcher die Compliance verbessernder Leistungen ist hervorragend.

Beispiele gab und gibt es (auch) in Deutschland in unterschiedlichen Ausprägungen: von der (ehemaligen) Gemeindeschwester über speziell qualifizierte Praxismitarbeiter bis hin zu verschiedenen Modellen des Innovationsfonds (Gesundheitskiosk Billstedt/Horn) oder dem PORT – Ansatz der Robert-Bosch-Stiftung mit dem angelsächsischen Modell der community-healt-nurses. Solche Mittler – primär angebunden an die hausärztliche Versorgung in sozialen Brennpunkten – zu ermöglichen, eröffnet einen neuen, ganzheitlichen Aspekt der sektorenübergreifenden Versorgung, nämlich die Integration des sozialen, präventiven oder rehabilitativen Sektors in die medizinische Versorgung. Das schon erwähnte GPVG offeriert hierzu bereits einen wichtigen, ersten Schritt.

 

Neue Initiative des BMG nach Corona-bedingter Unterbrechung

Beide Ergebnispapiere der BLAG (Eckpunktepapier und Fortschrittsbericht) konnten vor dem Ausbruch der Corona-Epidemie hierzulande politisch geeint werden. Es war eigentlich geplant, noch im Frühjahr die ersten Gesetzesentwürfe vorzulegen. Dazu kam es – Corona-bedingt – bis heute nicht. Vor einigen Tagen hat aber nun das BMG mit einem Schreiben an den GMK-Vorsitz die Länder aufgefordert, Gedanken und Vorstellungen für den weiteren Prozess der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „zur Vorbereitung der weiteren Bearbeitung“ aufzuzeigen. Die Antwort der Länder steht noch aus.

Zugegeben – die Zeit wird knapp in dieser Legislaturperiode. Wahrscheinlich wird man sich auf die Umsetzung der bisher konsentierten Themen konzentrieren müssen, wenn man den üblichen Diskussionsvorlauf in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe kennt. Die Umsetzung von Eckpunkten und Arbeitsaufträgen in Gesetzesformulierung ist oft ein mühevoller Aushandlungsprozess. Ein solches Ergebnis wäre dann bei weitem nicht der große Wurf, denn der Koalitionsvertrag vorgibt, aber immerhin. Dazu die ersten und richtungsweisenden Schritte vorzubereiten und gesetzgeberisch umzusetzen, ist immerhin Auftrag und Hintergrund der Formulierung des Koalitionsvertrages.

 

Chance zur Richtungsänderung nutzen

Es geht nicht darum, ein definiertes Zukunftsmodell zu entwickeln, sondern die notwendigen Grundlagen und ersten Schritte in diese Richtung festzulegen. Vorstellungen, wie eine sektorenübergreifende Versorgung idealtypisch im Ergebnis aussehen kann, gibt es  insbesondere aus der jüngsten Zeit zahlreich. Verwiesen wird beispielhaft auf die Veröffentlichung der Friedrich-Ebert-Stiftung „Patient first“ aus 2018, das 10-Punkte-Papier der BARMER zur „Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung“  von 2019 oder die in Kürze erscheinen Übersichtsarbeit der bisherigen Ansätze und eines regional ausgerichteten Modells von H. Hildebrandt et al. (in Vorbereitung 2020).

Es ist gut zu wissen, wie das Ziel aussehen kann, wichtiger ist es aber, den Weg dorthin zu beginnen, also zu klären, wie man also von A (jetziger Zustand) nach B (sektorenübergreifende Versorgung) kommen kann, welche Schritte unabdingbar sind und wie man diese einleiten kann. Hier zeigen die bisherigen Papiere der Bund-Länder-Arbeitsgruppe und auch das GPVG eine erste, aber wichtige Richtungsänderung auf. Es wäre fatal, wenn diese Chance in dieser Legislaturperiode nicht bis zum letzten ausgenutzt wird.

Von daher kann man nur hoffen, dass die Länder sich neben allem Abstimmungsbedarf zu Corona möglichst bald und nicht erst auf der GMK im Oktober Zeit und Kraft nehmen, den Ball, den ihnen das BMG zur Fortsetzung des Prozesses der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zugespielt hat, mit Verve aufzunehmen und so weit wie möglich den Koalitionsvertrag für eine sektorenübergreifende Versorgung im Sinne der ursprünglichen Zielsetzungen umzusetzen. Nur Mut: Es liegen genug vorbereitende Materialen und Gesetzestexte zu den einzelnen erwähnten Eckpunkten in den Schubladen des BMG, auf die man aufsetzen kann.


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