Bewährte Wirkstoffe – Fundament der Arzneimittelversorgung in Gefahr?

Warum Grundversorgung, Lieferengpässe und neue Therapien zusammenhängen

Dr. Norbert Gerbsch, Senior Director Innovation & Healthcare Management, G. Pohl-Boskamp GmbH & Co. KG

Keine Frage, patentgeschützte innovative Wirkstoffe sind für den therapeutischen Fortschritt unerlässlich. Die Grundversorgung sichern Arzneimittel mit bewährten Wirkstoffen, die fast nie unter Patent stehen: Auf sie entfallen fast 95 % der Verordnungen und rund 50 % der Umsätze mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln.[1]  In der Regel handelt es sich damit um besonders preisgünstige Arzneimittel.

Zu dem auf diesen Arzneimitteln lastenden Wettbewerbsdruck tragen die seit 2007 durch die Austauschvorgaben des § 129 SGB V „scharf geschalteten“ Rabattverträge nach § 130a Abs. 8 SGB V bei. Die Erlöse der gesetzlichen Krankenkassen aus diesen Rabatten sind seither von 0,3 auf fast 5 Mrd. EUR pro Jahr gestiegen[2], zum weitaus größten Teil aus Rabatten für Arzneimittel mit patentfreien Wirkstoffen. Der Wettbewerbsdruck zwingt bei Gewährleistung der Qualität der Arzneimittel zur Ausschöpfung der Wirtschaftlichkeitsreserven, auch auf Kosten von Produktionsreserven. Dies trägt zur Verlagerung der Produktion insbesondere von Wirk- und Hilfsstoffen in non- EU-Länder bei, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten enorm beschleunigt hat. Heute wird noch rund ein Drittel der Qualitätszertifikate für die Herstellung von Wirkstoffen (CEP) in der EU gehalten, zwei Drittel in Asien. Im Jahr 2000 war das Verhältnis zwischen Europa und Asien umgekehrt; gleichzeitig hat sich die Zahl der Zertifikate stark erhöht.[3]

Diese Bedingungen sorgen für Marktkonsolidierung: Eine vergleichende Analyse der Marktkonzentration von Arzneimitteln mit versorgungsrelevanten Wirkstoffen unter Rabattvertrag in den Jahren 2008 und 2017[4] zeigt, dass in diesem Zeitraum der Anteil der betroffenen Arzneimittel mit geringer Marktkonzentration von 4,1 auf 0,6 % gesunken ist, der Anteil mit mittlerer Konzentration von 32,5 auf 10,1 % zurückgegangen und der Anteil der Arzneimittel mit hoher Marktkonzentration von 63,3 % auf 89,3 % gestiegen ist.

 

Abhängigkeit und Lieferengpässe

Parallel ist ein Anstieg von Lieferengpässen zu beobachten. Werden die pro Kalenderjahr registrierten (aus dem Vorjahr weiter bestehenden und neu dazugekommenen) Lieferengpassmeldungen beim BfArM[5] betrachtet, so sind diese von 23 in 2016 auf 742 in 2020 gestiegen. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) berichtet für 2019 bei Arzneimitteln unter Rabattvertrag über 18 Mio. nicht verfügbare Packungen, mit stark steigender Tendenz[6].

Wettbewerb ist Grundlage des Geschäfts der pharmazeutischen Industrie. Aber es fällt schwer, zwischen dem durch die geübte Vergabepraxis verstärkten hohen wirtschaftlichen Druck, der Verlagerung grundlegender Produktionsschritte nach Asien, der Marktkonsolidierung, der damit verbundenen Verminderung der Anbietervielfalt und  zunehmenden Lieferengpässen keinen Zusammenhang zu erkennen.

Die SARS-CoV-2 Pandemie hat deutlich gemacht, wie groß die Abhängigkeit von non-EU- Standorten bei vielen Wirk- und Hilfsstoffen geworden ist: Am 03. März 2020 gab Indien einen Exportstopp für 26 Arzneimittel und Wirkstoffe bekannt.[7] Auch, weil Indien rund 70% seiner Wirkstoffe aus China bezieht und die Versorgung fraglich war. Der Exportstopp war nach politischer Intervention von kurzer Dauer – man mag sich nicht vorstellen, das wäre anders gewesen. Die zunehmenden Lieferengpässe haben in die öffentliche Wahrnehmung gerückt, dass die reibungslose Versorgung mit Arzneimitteln keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Das Fundament der Arzneimittelversorgung, das auf bewährten Wirkstoffen beruht, ist brüchig geworden. Es zeigt sich, dass am unteren Ende der Preisskala für Arzneimittel die Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit gestört ist.

 

Investitionen als Ausweg?

Aus der Abwärtsspirale in den Schritten

  • Ausschöpfung aller Wirtschaftlichkeitsreserven und Abbau von Produktionsreserven über
  • die zunehmende Verlagerung von Produktionsschritten aus der EU heraus bis
  • zur Aufgabe der Herstellung und daraus resultierender Marktkonzentration

wären Investitionen in die Produkte der unternehmerische Ausweg.

Investitionen, um neue therapeutische Optionen mit bewährten Wirkstoffen zu erschließen und damit die wirtschaftliche Grundlage für Hersteller in der EU zu erhalten. Denn Produktion folgt der Forschung. Beispiele für neue therapeutische Optionen auf Basis bewährter Wirkstoffe wurden auf dem ersten digitalen Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik vorgestellt und im Observer berichtet.

 

Bewährte Wirkstoffe auch bei COVID-19

Zu bewährten Wirkstoffen, die in eigenen Produkten langjährig eingesetzt werden, bestehen Erfahrungen: Zu Herstellung, Wirkung und Nebenwirkungen. Daraus können sich Hinweise zum Einsatz gegen Erkrankungen ergeben, für die noch keine Zulassung existiert. Im Vergleich zu völlig neuen Wirkstoffen kann die Entwicklung potentiell schneller und günstiger sein, denn es existiert meist eine breite Datenbasis und eine etablierte Herstellung. Ein Beispiel aus dem eigenen Haus: In der im Januar 2021 gestarteten COVARI-Studie prüft Pohl-Boskamp, ob ein bekannter verschreibungsfreier Wirkstoff den Krankheitsverlauf von COVID-19-Patienten verkürzt und verbessert, die stationär aufgenommen wurden und mit Sauerstoff versorgt werden müssen, aber nicht künstlich beatmet werden.

Basis ist die bekannte, durch klinische und In-vitro-Studien belegte Eigenschaft des Wirkstoffes, die mukoziliäre Clearance zu verbessern. Dieser biologische Mechanismus produziert in den Atemwegen bis weit in die Bronchien hinein Sekret (Mukus), das auf der Schleimhaut zu schwimmen scheint und angetrieben durch rund 3 Billionen Flimmerhärchen wie ein Förderband Staub, Bakterien und Viren in Richtung Mund abtransportiert.

Das häufigste Symptom bei COVID-19-Patienten, Husten[8], ist ein frühes Indiz für einen gestörten mukoziliären Apparat. Sekret kann dann nicht mehr ausreichend aus den tiefen Bronchien abtransportiert werden, was die Gasaustauschfläche einschränken kann. Die Studie prüft daher, ob der Wirkstoff ein Baustein sein kann, um der Verminderung des Gasaustausches bei COVID-19-Patienten entgegenzuwirken.

 

Erstattungs-Regime verhindert Forschungsinvestitionen

Aus wissenschaftlicher Perspektive erstaunt, dass die Repositionierung bewährter Wirkstoffe nicht intensiver genutzt wird. Aus wirtschaftlicher Perspektive erstaunt dies weniger: Denn das Festbetragssystem nach § 35 SGB V in Verbindung mit dem erweiterten Preismoratorium nach § 130a Abs. 3a SGB V erlaubt es in der Regel nicht, für Wirkstoffe, die im eigenen Unternehmen bereits eingesetzt wurden, die notwendigen Forschungsinvestitionen über den Preis zu refinanzieren. Dieser ist bei lang eingesetzten Wirkstoffen meist über mehrere Runden auf ein Niveau gesenkt, das Investitionen nicht mehr wirtschaftlich trägt.

So zeigt sich: Übermäßiger wirtschaftlicher Druck auf Arzneimittel mit bewährten Wirkstoffen schwächt zusammen mit der Blockade von Investitionen in neue Therapieoptionen durch das Erstattungssystem Forschung und Produktion und trägt damit zur Abwanderung aus der EU bei. Dies ist kaum zu verstehen, da gerade bewährte Wirkstoffe die Chance bieten, neue therapeutische Optionen besonders wirtschaftlich zu erschließen.

Die Herstellerverbände haben dazu im letzten Jahr eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, um die wirtschaftliche Arzneimittelversorgung durch Stärkung von EU Produktion und Forschung an bewährten Wirkstoffen zu stabilisieren[9],[10] Vorschläge, die unserer Auffassung dringend diskutiert werden sollten: Für eine bessere und stabilere Arzneimittelversorgung.

 

[1] Schwabe, U.; Ludwig, W.-D. (Hg).: „Arzneiverordnungs-Report 2020“, S. 6-8, Berlin, 2020.

[2] Bundesministerium für Gesundheit (BMG): Gesetzliche Krankenversicherung Endgültige Rechnungsergebnisse 2007-2019 (KJ1): https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/krankenversicherung/zahlen-und-fakten-zur-krankenversicherung/finanzergebnisse.html; aufgesucht am 03.03.2021.

[3] „WHERE DO OUR ACTIVE PHARMACEUTICAL INGREDIENTS COME FROM? – A WORLD MAP OF API PRODUCTION“ Pro Generika, September 2020; https://progenerika.de/app/uploads/2020/11/API-Study_long-version_EN.pdf; aufgesucht am 03.03.2021.

[4] Kozianka, W.; Hußmann, N.: „Zehn Jahre Arzneimittel-Rabattverträge – Wird der Leistungsanspruch des Patienten noch erfüllt?“, S. 13:  Gutachten im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V., März 2019; www.bpi.de; aufgesucht am 03.03.2021.

[5] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): Lieferengpässe für Humanarzneimittel in Deutschland; https://lieferengpass.bfarm.de/ords/f?p=30274:2:609130577714::NO; aufgesucht am 03.03.2021.

[6] Arnold, M: „Medicines Shortages: Giving up? Finding Solutions!“, Vortrag vom 01.12.2020, Folie 2; https://www.abda.de/aktuelles-und-presse/veranstaltungen/detail/lieferengpaesse-bei-arzneimitteln-aufgeben-loesungen-finden/; aufgesucht am 03.03.2021.

[7] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/03/04/indien-stoppt-arzneimittel-export/chapter:1, aufgesucht am 28.02.2021

[8] Robert Koch Institut (RKI): Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 23.02.2019, Seite 6, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/

Feb_2021/2021-02-23-de.pdf?__blob=publicationFile

[9] Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V.: Positionspapier „Arzneimittelversorgung nachhaltig sichern“: https://www.bpi.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Publikationen/Positionen/2020-12-03_BPI-Positionspapier_AM-Versorgung.pdf.

[10] Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) e.V.: „BAH-Diskussionsbeiträge und Lösungsvorschläge für eine (krisenfeste) Versorgung mit Arzneimitteln – Forschung und Produktion in Europa stärken – Lehren und Konsequenzen aus der Corona-Pandemie“; https://www.bah-bonn.de/index.php?id=2&type=565&file= redakteur_filesystem/public/20200901_BAH-Diskussionsbeitraege_und_Loesungsvorschlaege_fuer_eine_krisenfeste_Versorgung_mit_Arzneimitteln.pdf


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