05.04.2025
Arzneimittel-Zusatznutzen: Sind denn nicht alle ein bisschen Weltmeister?
Erwiderung zum Beitrag von Dr. Andrej Rasch im Observer Gesundheit
Prof. Dr. med. Jürgen Windeler
Man kann Andrej Rasch in seinem Beitrag im Observer Gesundheit „Die Spreu vom Weizen trennen“ in einem Punkt zustimmen: Bewertungen (nicht nur im AMNOG-Verfahren) sollten mit „Augenmaß, Flexibilität“ und unter „Berücksichtigung des Versorgungsbedarfs“ erfolgen, wobei – und das meint er sicher auch – die wissenschaftliche, evidenz-basierte Grundlage ja keineswegs verlassen werden muss.
Aber die sechs vorgebrachten Argumente, um dem Votum „Zusatznutzen nicht belegt“ quasi einen Orden anzuhängen, sind denn doch ein wenig „spooky“.
Klarstellungen zu AMNOG-Bewertungen
1. „Ein nicht belegter Zusatznutzen bedeutet nicht, dass es keinen Nutzen hat.“ (Zitate nach den Ziffern jeweils von Andrej Rasch) Das ist ungefähr so treffend, wie zu sagen: Dass das Wasser nicht heiß ist, bedeutet nicht, dass es kalt ist. Ja, klar, aber hier geht es nicht um Nutzen, sondern um ein Mehr an Nutzen. Und Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen sind damit nicht wertlos, haben aber ihren besonderen Mehr-Wert, den das AMNOG verlangt, nicht nachgewiesen.
2. „Jedes als gleich gut bewertete Arzneimittel erweitert zumindest das Spektrum …“. Aber die AMNOG-Bewertung heißt und bedeutet nur dies: ‚Zusatznutzen nicht belegt‘. Über die Gleichwertigkeit eines Arzneimittels sagt dies nichts, ganz offensichtlich nicht, wenn es sich um für eine Bewertung ungeeignete Daten oder unangemessene Vergleiche handelt. Eine Ausnahme würde sich nur dann ergeben, wenn das Arzneimittel über eine Nicht-Unterlegenheits-Studie / -Aussage zugelassen worden wäre. Und wenn schon die „Berücksichtigung des Versorgungsbedarfs“ eingefordert wird, dann wäre sehr sorgfältig zu erwägen, ob man bestimmte „gleich gut bewertete“ Arzneimittel wirklich braucht, das achte Statin jedenfalls nicht.
3. „Die Feststellung eines nicht belegten Zusatznutzens erfolgt in den allermeisten Fällen dadurch, dass die verfügbare Evidenz aus internationalen Studien nicht den spezifischen Bewertungsanforderungen in Deutschland entspricht.“ Genau! Was denn auch sonst? Kurz zur Erinnerung: Das AMNOG regelt eine Bewertung für das deutsche Gesundheitssystem in einem deutschen Gesetz. Die „spezifischen Bewertungsanforderungen“ berücksichtigen deutsche Gegeben- und Eigenheiten, u.a., dass es keine vierte Hürde und keine Kosten-Nutzen-Betrachtungen gibt. Natürlich könnte man das (aber dann alles!) ändern und sich internationalen Gepflogenheiten anpassen …
4. „Ein nicht belegter Zusatznutzen spiegelt kaum den realen Stellenwert eines Arzneimittels in den medizinischen Leitlinien und in der Versorgung wider.“ Abgesehen davon, dass ein für eine bestimmte Indikation gerade eben zugelassenes Medikament sich weder in Leitlinien finden wird noch sich einen „Stellenwert“ in der Versorgung erobert haben kann, stellt sich die Frage, aus welchem Grund und auf welcher Basis es sich in Leitlinien und Versorgung finden könnte. Es spricht viel dafür, dass hierfür ein festgestellter Zusatznutzen maßgeblich sein sollte. Es spricht aber wenig dafür, dass dies so ist.
Dass der G-BA feststellt, dass ein Arzneimittel trotz einer Bewertung „Zusatznutzen nicht belegt“ eine „relevante Therapieoption sein kann“, bedeutet, wie man den Erwägungen im Plenum regelmäßig entnehmen kann, einen Formelkompromiss, um der KBV die Furcht vor Regressen zu nehmen. Inhaltliche Bedeutung – wie von Rasch suggeriert – hat diese Aussage nicht, da die Bewertung auf die Verordnungsfähigkeit ohnehin keinen Einfluss hat. Und wer sich ein wenig mit Äußerungen von Fachgesellschaften in den Stellungnahmeverfahren befasst, mag sich ein Bild machen, mit welchen Argumenten der Stellenwert in der Versorgung „bekräftigt“ wird. „Wir haben nur Gutes gesehen“ ist da nur eine geringfügige Überspitzung.
5. „Ein nicht belegter Zusatznutzen in einer Erstbewertung kann später in einen großen Zusatznutzen münden.“ Ja, natürlich ist das möglich – das Umgekehrte übrigens auch! Aber was bedeutet das für die Erstbewertung, in der die Daten für diesen großen Zusatznutzen nicht da sind? Sollte vielleicht für alle Arzneimittel ein erheblicher Zusatznutzen ausgerufen werden, weil – vielleicht – irgendwann später zusätzliche, neue, bessere Daten vorliegen könnten? Eigentlich erklärt man ja einen Jugendlichen, der gerade 1,40 m übersprungen hat, nicht deshalb zum Olympiasieger, weil er – vielleicht – einmal 2,40 m schaffen könnte.
6. „Bewertungen der involvierten Institutionen können sich unterscheiden.“ Nun ist das auch keine Neuigkeit, und die Konsequenz für AMNOG-Bewertungen bleibt ebenso unklar wie bei den übrigen fünf Punkten. Abgesehen davon, dass wiederum unterschiedliche Aspekte z.B. in die Bewertung von G-BA und IQWiG eingehen und zusätzlich der G-BA Daten aus den Stellungnahmen erhält, also die Datengrundlage unterschiedlich sein kann, erschließt sich nirgends, warum aus der Unterschiedlichkeit allein irgendein Rückschluss darauf möglich ist, dass eine Bewertung „Zusatznutzen nicht belegt“ unangemessen ist oder „relativiert“ werden muss, wie der Observer teaserte.
Fazit
„Ein AMNOG-Beschluss ist also kein Abbild der Versorgungsrealität“, schreibt Rasch. Ganz abgesehen davon, dass dies gar nicht die Funktion der AMNOG-Bewertungen ist und rein zeitlich gar nicht möglich ist, stellt sich natürlich die Frage, was denn diese Versorgungsrealität bestimmt. Die intensive Werbung der Industrie? Die Überzeugungen von Experten, die in „S2k“-Leitlinien den Wert „bekräftigen“, deren „k“ für Konsens im Unterschied zu „e“ wie Evidenz steht? Und wenn ein pharmazeutischer Unternehmer eine Kongruenz der AMNOG-Bewertungen mit dieser angeblichen Realität herstellen möchte, hat der Gesetzgeber ihm die Möglichkeit geschaffen, „eine erneute Nutzenbewertung (zu) beantragen, wenn er die Erforderlichkeit wegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse nachweist“ (§ 35 Abs. 5 SGB V). Dass dies nur äußerst selten passiert, sondern stattdessen auf konsens-basierte Leitlinien gesetzt wird, lässt erahnen, wie sehr die Anbieter von der wissenschaftlichen Grundlage ihrer „Versorgungsrealität“ überzeugt sind.
Die AMNOG-Bewertungen erfolgen auf einer definierten Basis zu einem definierten Zeitpunkt nach definierten Regeln. Die Ergebnisse – alle! – sind die jeweils beste Momentaufnahme und grundsätzlich offen für neue, überzeugende Erkenntnisse. Auf dieser Basis sind in der Tat Augenmaß und Flexibilität hilfreich, um zu praktisch angemessenen Bewertungen zu kommen. Aber hier ist weder Kindergeburtstag, wo niemand traurig nach Hause gehen soll, noch das Wettrennen in „Alice im Wunderland“, wo alle gewonnen haben und einen Preis bekommen. „Irgendwie ist jeder Weltmeister“ wird dem bemühten „Stellenwert in der Versorgung“ sicher nicht gerecht. Und Spreu ist ja keineswegs wertlos und schon gar nicht „böse“ – sie macht nur nicht so satt wie Weizen. Dieser „Nährwert“ ist es aber, der im AMNOG-Prozess bewertet wird. Zu wünschen wäre es, wenn sich Leitlinien und Versorgung an diesem Nährwert orientieren würden.
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