04.12.2024
Arzneimittel für besondere Therapiesituationen – was ist heute anders?
Dr. Andrej Rasch, Nutzenbewertung und HTA-Koordination beim Verband forschender Arzneimittelhersteller e. V.
Sind die Therapieansätze von heute grundlegend anders als noch vor zehn Jahren? Wenn ja, sollten sie dann auch anders bewertet werden? Dies führt wohl zur einen der drängendsten Fragen der Arzneimittelpolitik: Wie können medizinischer Fortschritt, Evidenzanforderungen und nachhaltige Versorgung in Einklang gebracht werden?
Durch Fortschritt in der Arzneimittelforschung werden zunehmend innovative Therapieansätze entwickelt, die auf eng definierte, schwer erkrankte Patientengruppen mit unzureichenden Behandlungsoptionen ausgerichtet sind. Für das „AMNOG“, also das Verfahren der Bewertung des Zusatznutzens mit anschließender Preisverhandlung, dem sich alle neu zugelassenen Arzneimittel beim Marktzugang in Deutschland stellen müssen, führt das zu Herausforderungen. Denn die Durchführung von klinischen Studien höchster Evidenzstufe (also randomisiert-kontrollierter Studien), die bei der Bewertung als Goldstandard gelten, kann bei solchen besonderen Therapiesituationen erschwert sein. Das erzeugt viele Diskussionen rund um Anforderungen an die Evidenz, Bewertungskriterien, Versorgungsrelevanz oder auch die finanziellen Auswirkungen, die der Einsatz solcher Arzneimittel für die gesetzliche Krankenversicherung mit sich bringt.
Diese Diskussion sollte nicht nur theoretisch geführt werden. Zur Wirkung in der Praxis gibt es mittlerweile eine empirische Grundlage mit aussagestarken Kennzahlen („Spotlight Pharma Market“, 12/24).
Zielpopulationen: immer kleiner
Der Trend hin zu zielgerichteten Therapien für kleinere Gruppen von Betroffenen spiegelt sich in der abnehmenden Häufigkeit von Erkrankungen in den AMNOG-Verfahren für neue Arzneimittel wider. Lag die mediane GKV-Zielpopulation, also die theoretisch für das bewertete Arzneimittel in Frage kommende Patientengruppe, in den G-BA-Beschlüssen in den Anfangsjahren des AMNOG 2011 bis 2013 noch bei 38.000 Patient:innen, so sank diese in den letzten beiden Jahren auf 1.310 Patient:innen. Die Häufigkeit von Erkrankungen im Fokus einer G-BA-Bewertung war zuletzt also um 97 Prozent geringer als in den ersten Jahren des AMNOG-Verfahrens. Dabei ist diese Entwicklung keinesfalls nur auf die Entwicklung von Arzneimitteln zur Behandlung seltener Erkrankungen (Orphan Drugs) zurückzuführen. Der Trend zeigt sich exakt so auch bei Arzneimitteln ohne Orphan Drug-Status. Die Arzneimittel von heute sind also klar anders als vor 10 Jahren.
Die geringe Häufigkeit einer Erkrankung kann die Evidenzgenerierung für besondere Therapiesituation und damit insbesondere die Durchführung von Studien höchster Evidenzstufe erschweren. Was bedeutet das in Zahlen? Seit 2011 wurde bei 18,4 Prozent der AMNOG-Verfahren die Anerkennung eines Zusatznutzens ausschließlich aus nicht randomisierten Studien (Non-RCTs) beansprucht. Dieser Anteil variiert jedoch deutlich je nach Häufigkeit einer Erkrankung. Bei sehr geringer Populationsgröße (1 bis 50 Betroffene in Deutschland) war der Non-RCT-Anteil mit 66 Prozent am höchsten. Mit ansteigender Populationsgröße sinkt die Non-RCT-Quote allerdings kontinuierlich. Ab einer Populationsgröße von 10.000 Patient:innen liegt die Non-RCT-Quote bei 0 Prozent. Für häufigere Erkrankungen sind nicht-randomisierte Studie also praktisch nie im Fokus einer Bewertung.
Beleg des Zusatznutzens: schwierig für kleine Populationen
Immer kleinere Patientengruppen werden mit gleichen methodischen Anforderungen bewertet, wie in den Anfangsjahren der AMNOG-Bewertung, als die Patientenzahlen deutlich höher waren. Eine geringe Erkrankungshäufigkeit und die damit assoziierte Studienlage können den Nachweis eines Zusatznutzens jedoch deutlich erschweren. Die AMNOG-Daten zeigen klar, dass der Anteil der Verfahren mit einem belegten Zusatznutzen für kleinste Populationen (ohne Orphan Drug-Status) am geringsten ist: nur 14 Prozent bei einer GKV-Zielpopulation zwischen 1 und 50 Patient:innen. Für häufigere Erkrankungen ließ sich ein Zusatznutzen deutlich häufiger belegen: in über 50 Prozent bei einer GKV-Zielpopulation zwischen 1000 und 10000.
Zahlreiche neue Arzneimittel werden bei hohem medizinischen Versorgungsbedarf zugelassen, so zum Beispiel bei unzureichend wirksamen Therapien und vor allem beim Fehlen zugelassener Therapiealternativen (sog. therapeutischen Solisten). Bei den Non-RCT-Verfahren liegt der Anteil solcher Solisten bei rund 37 Prozent. In den meisten Fällen stand den Betroffenen hier lediglich „Best-Supportive-Care“, also lediglich eine bestmögliche unterstützende Behandlung zur Milderung der Erkrankungsfolgen als verbleibende Alternative zur Verfügung.
Vor allem Arzneimittel ohne RCTs stehen regelmäßig im Fokus kritischer Debatten – nicht nur hinsichtlich ihrer Evidenz, sondern auch mit Blick auf ihre finanziellen Auswirkungen. Die Analyse des vfa zeigt, dass seit 2011 etwa 11 Prozent aller 440 AMNOG-bewerteten Arzneimittel ihren Zusatznutzen ausschließlich aus nicht randomisierten Studien beansprucht haben. Der Anteil der GKV-Ausgaben für diese Arzneimittel am GKV-Pharmagesamtmarkt lag zuletzt im Jahr 2023 jedoch bei 1,1 Prozent. Es handelt sich also im Gesamtmarkt um eine therapeutische Nische.
Wie kann es weitergehen?
Im Ergebnis stellt sich die Frage, ob der Rahmen der AMNOG-Nutzenbewertung den aktuellen Entwicklungen gerecht wird. Zumindest für einige Bereiche ist dies anhand der oben skizzierten Zahlen zu hinterfragen. Aktuell sieht der rechtliche Rahmen des AMNOG zwar vor, dass es Therapiesituationen gibt, in denen es „unmöglich oder unangemessen ist, Studien höchster Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern“ (so die Maßgabe in der entsprechenden Verordnung AM-NutzenV). In diesem Falle sind „Nachweise der bestverfügbaren Evidenzstufe einzureichen“. In der Bewertungspraxis der letzten Jahre lief diese Regelung jedoch bislang stets ins Leere: Die Möglichkeit sowie Angemessenheit von klinischen Studien höchster Evidenzstufe wird nicht geprüft, die eingereichten Studien niedrigerer Stufen werden regelhaft aussortiert. Eine Berücksichtigung der Besonderheiten von Therapiesituationen findet also nicht statt.
Das sollte jedoch der Fall sein, um einzelfallgerechte Bewertungen zu gewährleisten. Als Prüfkriterien kommen dabei z.B. die Häufigkeit der Erkrankung, der ungedeckte medizinische Bedarf oder der Schweregrad der Erkrankung in Frage. Wird festgestellt, dass es eine unmöglich oder unangemessen, Studien höchster Evidenzstufe zu fordern, so wäre es dann nur folgerichtig, die Bewertung auf der Grundlage der bestverfügbaren Evidenz durchzuführen. Denn, auch das AMNOG-Verfahren sollte sich schließlich dem medizinischen Fortschritt stellen. Am besten schon heute und nicht erst in 10 Jahren.
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