04.11.2022
AMNOG ade – Pharma ante Portas?
Risiko-Analyse der Pharma-Reform nach Verabschiedung des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes
Sebastian Hofmann, Redakteur Observer Datenbank, Observer Gesundheit
In einem ersten Beitrag (AMNOG ade?) wurde erläutert, wie das Bundesgesundheitsministerium bei innovativen Arzneimitteln sparen will. Der zweite Teil analysiert nun das neue Anreizsystem und mögliche Folgen für das Angebot der Hersteller. Nach Abschluss der Gesetzgebung stellt sich insbesondere die Frage: Wie steht es um das Privileg „bei neuen Arzneimitteltherapien: alles und zwar sofort“?
Deutschland geht erneut ins Risiko bei der Verfügbarkeit neuer Arzneimittel, diesmal jedoch ohne doppelten Boden. Im Jahr 2010 kombinierte Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) eine scharfe Kostendämpfung bei neuen Arzneimitteltherapien mit zwei Anreizen für die Hersteller: ein Jahr freie Preisbildung zur Markteinführung und ab dem zweiten Jahr vereinbarte Preise mit der Maßgabe: Wer besser ist als die Standardtherapie, bekommt auch einen besseren Preis. Das Konzept ging auf: Die Krankenversicherungen sparten Geld durch vereinbarte Rabatte, und alle neuen Arzneimittel waren weiterhin sofort erhältlich. Durch neue Vorgaben im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz der Ampelkoalition wird das Anreizsystem aus dem Jahr 2010 nun weitgehend entkräftet.
Der amtierende Minister Karl Lauterbach (SPD) betont, die Leistungen der GKV würden durch das aktuelle Spargesetz nicht gekürzt. Das ist richtig, Lauterbach verschweigt aber einen entscheidenden Aspekt: Jede Leistung erfordert ein Angebot. Hersteller entscheiden selbst, wann sie ein Produkt wo auf den Markt bringen. Die Ampelkoalition hofft nun offensichtlich, Hersteller aus aller Welt würden ihre innovativen Arzneimittel unverändert – also alles und zwar sofort – nach Deutschland liefern, auch ohne das über Jahre bewährte Anreizsystem. Die Devise scheint zu lauten: Pharma ante Portas – alle wollen nach Deutschland. Kann das funktionieren? Ein Blick auf die neuen Konditionen nährt zumindest Zweifel, ob das deutsche Privileg als „first launch country“ weiterhin Bestand haben wird.
Rösler lockte, Lauterbach schrumpft
Was hat sich nun verändert? Mit dem Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz von 2010, allseits „AMNOG“ genannt, hatte Rösler die Industrie erfolgreich motiviert, Deutschland weiterhin privilegiert zu versorgen. Meist ist es den Unternehmen bei einem neuen Produkt nicht möglich, sofort den Bedarf aus aller Welt zu decken. Von null auf hundert geht i.d.R. nicht; dafür fehlen schlicht die Ressourcen. Das führt dazu, dass Hersteller ihre neuen Produkte nach und nach über die Gesundheitssysteme der Welt verteilen. Die Reihenfolge richtet sich nach den nationalen Konditionen. Unübertroffen attraktiv sind die USA, Deutschland rangierte in der Kategorie „rest of world“ bisher weit oben im Pharma-Ranking. „First year: free price“ war ein starkes Argument in der zeitlichen Planung der international aufgestellten Unternehmen.
Lauterbach schrumpft nun mit seiner „AMNOG-Reform“ die Spanne der Preisfreiheit von zwölf auf sechs Monate. Die deutschen Niederlassungen der internationalen Konzerne müssen zukünftig bei ihren Headquartern mit dem Slogan „first six months: free price“ für eine schnelle Markteinführung in Deutschland werben. Das wirkt eher wie ein müdes Zugpferd. Gerade in den ersten Monaten ist der Absatz von medizinischen Innovationen oft noch überschaubar. Ärzte steigen nicht sofort auf neue Therapien um, daher ist die Marktdurchdringung eher zögerlich. Sechs Monate sind – für sich genommen – nicht attraktiv. Was bleibt, ist der Vorteil, dass die Krankenkassen neue Arzneimittel sofort nach der Zulassung erstatten. Andernorts müssen Patienten auf Medikamente solange warten, bis die Preisverhandlungen mit dem Hersteller abgeschlossen sind. Hierzulande steht der Absatzmarkt sofort offen, sofern der Hersteller für sein Arzneimittel eine Zulassung hat und in Deutschland anbieten will. Nun stellt sich die Frage: Reicht das, um die schnelle Verfügbarkeit neuer Arzneimitteltherapien weiterhin zu gewährleisten?
Unterstellt man, dass der Vorteil „first six months: free price“ die Entscheidungen der Headquarter nicht mehr maßgeblich beeinflussen wird, kommt es in Zukunft ausschließlich auf die Konditionen der Preisbildung an. Auch dieser Teil des AMNOG wurde stark verändert. Das ehemalige Paradigma dreht sich ins Gegenteil: Nach Rösler galt der Grundsatz: Wer im Vergleich zur Standardtherapie einen Vorteil (genannt „Zusatznutzen“) zeigen kann, der wird finanziell belohnt. Mit Lauterbach wird nun ein „Prinzip Strafe“ eingeführt: Wer für seine Innovation keinen Zusatznutzen zeigen kann, wird bestraft mit einem Abschlag von mind. 10 % auf den Preis der Vergleichstherapie. Das entbehrt jeder medizinischen Logik. Eine zusätzliche Therapie, die nicht schlechter ist als der Standard, kann für die behandelnden Ärzte eine wertvolle Option sein. Patienten sind verschieden, Optionen ermöglichen individuelle Therapie-Schemata. Außerdem weiß man aus dem Generikamarkt nur zu gut: Mehrere Produkte von verschiedenen Herstellern sichern die Versorgung. Auch bei „nur“ gleicher Qualität ist jedes neue Arzneimittel ein Gewinn für die Versorgung. Da wirkt ein Strafrabatt für die Mehrzahl der neuen Produkte völlig unangebracht. In 2021 betraf das immerhin 74 von 146 neuen Wirkstoffen (Quelle: G-BA)
Schritt-Innovationen sind nichts wert
Noch herber wirkt der Paradigmenwechsel bei Wirkstoffen, die zwar einen therapeutischen Fortschritt zeigen, dieser Vorteil aber „nur“ als Schritt-Innovation klassifiziert wird. Als Schritt-Innovation gilt beispielsweise, wenn eine neue Therapie ohne schwere Nebenwirkungen auskommt – bei gleichem therapeutischem Erfolg. Ein solcher (im Amtsdeutsch „geringer“) Vorteil soll in Zukunft nicht mehr belohnt werden. Auch dann nicht, wenn er das Leben der Patienten erheblich erleichtert. Der Hersteller erhält bestenfalls den Preis der Standardtherapie. Das wirkt gegenüber den Anbietern neuer Therapien grob unfreundlich und gegenüber den betroffenen Patienten reichlich zynisch. Gleiches gilt für Wirkstoffe, bei denen ein therapeutischer Vorteil gegeben ist, dieser aber z.B. wegen laufender Studien noch nicht abschließend quantifiziert werden kann. In beiden Fällen wird Röslers einstiges Versprechen „wer besser ist, kriegt mehr“ gebrochen; betroffen ist knapp ein Drittel der Neuheiten (in 2021: 45 von 146). Zusätzlich werden die Konditionen für bestimmte Arzneimittelgruppen (Arzneimittel in Kombinationstherapien und Orphan Drugs) mit Sonderregelungen deutlich verschlechtert.
Mit diesen Sparmaßnahmen wird die konzeptionelle Strahlkraft des „Ur-AMNOG“ massiv beschädigt. Die Rösler´sche Logik „Zusatz-Vergütung bei Zusatz-Nutzen“ war bestechend und wurde damals von der Chefin der zuständigen Abteilung des GKV-Spitzenverbandes auf den Punkt gebracht. Dr. Antje Haas erklärte in 2011 auf zahlreichen Podien: „Warum sollen wir für ein neues Arzneimittel mehr bezahlen, wenn der Hersteller keinen Vorteil belegen kann?“ Die Pharma-Industrie hatte dem Argument nichts entgegenzusetzen. Haas hatte Recht. Unter den neuen Konditionen könnten die Headquarter nun aber die Gegenfrage stellen: „Warum sollen wir aufwändige Studien zum Vergleich mit der Standardtherapie auflegen, wenn uns in Deutschland ein Preisregime erwartet, dass wie eine missgünstige Gouvernante daherkommt?“ Der Beleg eines Zusatznutzens dient nun v.a. dazu, einen Strafabschlag zu vermeiden. Angesichts dieses „strafenden Systems“ für therapeutische Neuheiten dürfte die Einladung an die Hersteller, mit ihren Innovationen sofort nach Deutschland zu kommen, weit weniger freundlich ankommen.
Anreiz für Sprung-Innovationen bleibt
Ganz beseitigt wird das bisherige Preisregime jedoch nicht. Für Sprung-Innovationen, wie z.B. die Verlängerung des Lebens oder eine Heilung, gilt weiterhin das Ur-Prinzip des AMNOG: Der Vorteil einer neuen Therapie wird in einen Preis gefasst, der in freien Verhandlungen mit den Unterhändlern der GKV vereinbart wird. Das bedeutet: Für außerordentlich erfolgreiche Therapien (in Amtsdeutsch: für Wirkstoffe mit „erheblichem“ oder „beträchtlichem“ Zusatznutzen) wird der Preis weiterhin ohne Vorgaben des Gesetzgebers verhandelt. Weil der medizinische Fortschritt sich aber meist in Schritten und eher selten in Sprüngen bewegt, betrifft dies nur noch einen kleinen Teil der Innovationen. In 2021 erhielten gerade einmal 27 von 146 neuen Wirkstoffen eine Klassifizierung als Sprung-Innovation. Das ist weniger als ein Fünftel und dürfte kaum reichen, um das Signal „Deutschland als privilegierter Absatzmarkt“ weiter glaubwürdig in die Welt zu senden.
Wie kommt es nun zu diesem deutlichen Unterschied zwischen Schritt-Innovationen und Sprung-Innovationen? Für Schritt-Innovationen gibt es statt zusätzlichem Geld (für den Fortschritt) nur noch den Preis der Vergleichstherapie; als „Anreiz“ dient die Drohung mit einem Preisabschlag, wenn der Zusatznutzen nicht belegt ist. Bei Sprung-Innovationen bleibt es dabei: Der Preis kann frei verhandelt werden; Maßgabe ist der therapeutische Fortschritt; als Anreiz dient die Aussicht auf einen besseren Preis. Was ist das politische Kalkül hinter dieser Aufteilung des Marktes für Arzneimittel-Neuheiten in zwei völlig verschiedene Preis-Welten? Angesichts der unterschiedlichen Anreize bietet sich nur eine Erklärung: Die besten Innovationen will man weiter sofort verfügbar halten, alle anderen Erfolge der Forschung (wie z.B. die Vermeidung von schweren Nebenwirkungen) sind im Zweifelsfalle nicht so wichtig, also entbehrlich. Werden sich die Hersteller auf dieses Kalkül einlassen? In den Headquartern der Industrie dürfte man kaum bereit sein, sich mit solchen Detailfragen der Gesundheitssysteme zu beschäftigen. Dort denkt man eher in groben Schubladen. Die Folge könnte sei: Deutschland landet in der Schublade „mäßig interessanter Markt“, weil sich die Hersteller bei der Mehrheit ihrer neuen Produkte (den Schritt-Innovationen) von der GKV unfair behandelt fühlen. Dann müssten wir uns wohl auch für die großen Forschungserfolge (die Sprung-Innovationen) weiter hinten anstellen.
Ohne Debatte ins Risiko
Die Reaktion der Hersteller auf die deutlich verschlechterten Konditionen kann heute noch niemand absehen – wie damals in 2010, als das AMNOG auf den Weg gebracht wurde. Angesichts der neuen Anreizsysteme wirkt das Risiko diesmal jedoch deutlich höher. Umso erstaunlicher ist es, auf welch dünner Basis die aktuelle Reform verabschiedet wurde.
Dem Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) war weder eine Konzeptdiskussion noch ein wissenschaftlicher Diskurs vorausgegangen. Die vom BMG vorgeschlagene AMNOG-Reform wirkte wie das einsame Konzept einer Fachabteilung. Das ist nicht ungewöhnlich – auch wenn Karl Lauterbach gerne die Wissenschaft als Maß aller Reformen in der Vordergrund stellt. Ungewöhnlich ist dagegen, dass eine Reformdiskussion in Politik und Öffentlichkeit weitgehend ausblieb. Wurde 2010 noch Philipp Rösler in allen Medien eines „Kniefalls vor der Pharma-Industrie“ bezichtigt (weil er seine Reform leicht entschärft hatte), läuft die AMNOG-Reform von Karl Lauterbach weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit.
Auch im Bundestag wurde die AMNOG-Reform nicht näher diskutiert. Das ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Einerseits hätte das damit verbundene Risiko für die gewohnte Versorgung eine öffentliche Debatte verdient; schließlich gilt der sofortige Zugang zu neuen Arzneimitteln bisher als selbstverständlich. Und andererseits entzieht der Gesetzgeber seinem Beauftragten, dem GKV-Spitzenverband, das Vertrauen, indem er dessen Verhandlungsmandat durch strikte Vorgaben im Gesetz massiv einschränkt. Auch dies ist eine massive Änderung des bisherigen Preisregimes.
Nebelkerze im gleichgültigen Bundesrat
Letzteres begründet Karl Lauterbach in einer Rede vor dem Bundesrat mit dem Zustand vor der Reform: „Es war einfach ganz simpel möglich, ohne Zusatznutzen oder mit ganz geringem Zusatznutzen das Medikament im Vergleich zum Vergleichsmedikament doppelt so teuer in den Markt zu bringen“ (Rede am 28.10.2022 zu TOP 38 ab Minute 3:40). Lauterbachs Fazit: Der Unterschied bei den (verhandelten) Preisen sei zu klein. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Der Minister erweckt den Eindruck, der GKV-Spitzenverband habe sich in den Verhandlungen mit den Herstellern „ganz simpel“ über den Tisch ziehen lassen und seine Aufgabe als Verhandlungsführer der GKV seit 2011 nicht gut ausführt. Dieser (implizite) Vorwurf ist jedoch so offensichtlich falsch, dass es hierfür einer näheren Erklärung bedarf. Entweder wollte der Minister vor dem Bundesrat die tatsächliche Gemengelage mit seinen etwas wirren Ausführungen vernebeln. Oder Karl Lauterbach ist mit dem AMNOG und seinen Regeln – trotz der aktuellen Reform – im Detail nicht ganz vertraut.
Zu seiner Aussage vor dem Bundesrat fühlte sich der Minister im Übrigen bemüßigt, weil die Länder in ihrer ersten Stellungnahme zu diesem Gesetz darauf gedrungen hatten, eine Strukturreform für neue Arzneimittel erst nach einer ausführlichen Debatte auf den Weg zu bringen. Nachdem diese Forderung im Bund kein Gehör gefunden hatte, gaben nur Baden-Württemberg und Sachsen ihre Kritik zu Protokoll. Zu einer gemeinsamen Entschließung – wie sonst bei strittigen Themen üblich – konnte sich der Bundesrat offensichtlich nicht durchringen. Damit liegt die Länderkammer ganz im Trend: Neue Arzneimittel laufen derzeit unter „Ferner liefen“. Das wird der Bedeutung des Themas jedoch nicht gerecht. Arzneimittel sind knappe Güter. Die Risiken von Reformen müssen benannt werden. Streit um die beste Lösung wäre nötig gewesen. Die gesamte Genese dieser Reform wirkt verantwortungslos und beschämend.
FAZIT
Die Konditionen für neue Arzneimittel werden verschlechtert. Schritt-Innovationen werden deutlich abgewertet. Das Privileg Deutschlands als attraktiver Absatzmarkt steht in Gefahr. Das Risiko für die Versorgung in Deutschland wird von der Ampel-Koalition nicht benannt. Es bleibt zu hoffen, dass sich die implizite Annahme des BMG „alle wollen nach Deutschland“ (Pharma ante Portas) bewahrheitet. Falls nicht, bleibt Ärzten und Patienten nur der Trost: Der Fortschritt geht nicht verloren. Patienten werden weiterhin mit neuen Therapien versorgt. Dann eben anderswo auf der Welt.
Literatur:
- G-BA für die Zahlen, https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/1013/
- Rede vor dem Bundesrat, https://www.bundesrat.de/SharedDocs/personen/DE/bundesregierung/bmg/lauterbach-karl-bmg.html
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