21.08.2020
Ambulante Versorgung: qualitätsorientierte Vergütung allein für die Leistungsoptimierung nicht ausreichend
Italienische Studie: Wer sich mit vorgeschriebenen Qualitätszielen identifiziert, kann Leistungen verbessern
Ambulant vor stationär – dieser Leitsatz gilt international, aber auch zunehmend im deutschen Gesundheitswesen. Die Große Koalition verlangt verstärkt ein Umdenken von den beteiligten Akteuren in der ambulanten und stationären Versorgung. Sektorübergreifende Versorgungsformen werden beispielsweise durch medizinische Versorgungszentren weiter gefördert. Der Trend zur Ambulantisierung lenkt somit zunehmend das wirtschaftliche Interesse auf die praktizierenden Hausärzte. Eine italienische Studie von Cifalinó et al. [1] untersucht erstmalig, welche Faktoren die individuelle Performance von selbstständigen Hausärzten beeinflussen und inwieweit Gesundheitssysteme eine qualitätsorientierte Vergütung für eine ambulante Leistungsoptimierung nutzen können.
Hausärzte übernehmen eine zentrale Rolle für das Gesundheitssystem. Sie sind oftmals der erste Ansprechpartner für Patienten und treffen wegweisende Entscheidungen für die patientenindividuelle Gesundheitsversorgung. Die Nähe zum Patienten ist ein zentraler Vorteil. Gleichzeitig wächst das Risiko, dass Hausärzte den Bezug zu übergeordneten Organisationen verlieren, was dazu führen kann, dass intendierte Strategien der Gesundheitspolitik vermindert umgesetzt werden [2]. Begründen lässt sich dies damit, dass Hausärzte sich tendenziell eher mit ihrem Beruf als mit der für die Arbeit regulierenden Organisation identifizieren [3].
Das geringe Ausmaß an der Übereinstimmung von Organisationsstrategien und -entscheidungen ist vor allem bei selbstständigen Hausärzten zu beobachten, weil diese nicht so stark in Organisationeinheiten eingebunden sind, wie unter anderem angestellte Fachärzte in Krankenhäusern. Eine geringe Organisationsidentifikation kann unter Umständen dazu führen, dass ein Arzt der Wichtigkeit von Organisationszielen eine geringere Bedeutung zuschreibt, was sich darin äußern kann, dass qualitätsorientierte Organisationsziele (z.B. Anzahl an empfohlenen Tests/Screening für Diabetespatienten) nicht im vollem Ausmaß umgesetzt werden. Dieses Verhalten mindert jedoch die Wahrscheinlichkeit für den Hausarzt, dass er seine intendierten und individuellen Performanceziele mit dem Schwerpunkt Wirtschaftlichkeit und Versorgungsqualität erreicht. [4]
Im Rahmen der Studie von Cifalinó et al. [1] wird die hausärztliche Einhaltung von qualitätsorientierten Organisationszielen zu Wirtschaftlichkeit und Versorgungsqualität verwendet, um eine Aussage über die individuelle Performance von Hausärzten treffen zu können (siehe nächsten Abschnitt).
Cifalinó et al. [1] untersuchen in einer zusammenhängenden Betrachtung, welche Faktoren die individuelle Performance von Hausärzten beeinflussen und inwieweit die hausärztliche Organisationsidentifikation tatsächlich eine Relevanz einnimmt.
Italienisches Gesundheitssystem entscheidend für das Studiendesign
Die Studie wurde im Jahr 2015 in der italienischen Region Emilia-Romagana durchgeführt. Alle italienischen Hausärzte sind selbständig und übernehmen eine Gate-Keeper-Funktion, wo sie mittels einer Überweisung den Patienten den Zugang zu Fachärzten und anderen Gesundheitseinrichtungen ermöglichen. In Italien wird die Finanzierung des Gesundheitssystems primär über Steuereinnahmen getragen. Mehrere lokale Gesundheitsdienstleister übernehmen die Organisation und Verwaltung der ambulanten und stationären Versorgung. Jeder Hausarzt ist einem lokalen Dienstleister zugeordnet und wird durch diesen nach individuellen vertraglichen Vereinbarungen über eine Einzelleistungsvergütung (auch „Fee-for-Service“) und eine qualitätsorientierte Vergütung (auch „Pay-for-Performance“) honoriert.
Die Honorierung über eine qualitätsorientierte Vergütung spielt für das Studiendesign eine tragende Rolle. Der Anreiz dafür basiert darauf, dass die einzelnen Hausärzte die qualitätsorientierten Organisationsziele erreichen sollen, um ihre individuelle Wirtschaftlichkeit und Versorgungsqualität zu optimieren. Auf nationaler Ebene ist das italienische Gesundheitsministerium für die Sicherstellung der allgemeinen Ziele des Gesundheitssystems zuständig. Die lokalen Gesundheitsdienstleister sind auf regionaler Ebene dafür verantwortlich, dass die Versorgung sichergestellt ist. Dafür formuliert jeder Gesundheitsdienstleister jährlich entsprechende Organisationsziele und -strategien. Der lokale Gesundheitsdienstleister teilt den vertraglich zughörigen Hausärzten die jährlich zu erreichenden Organisationsziele zu. Im Rahmen der Studie wurden zwei Organisationsziele eines lokalen Gesundheitsdienstleisters in der italienischen Region Emilia-Romagana einbezogen, die die zugehörigen Hausärzte erreichen müssen, um den Wert ihrer individuellen qualitätsorientierten Vergütung zu steigern:
1. Organisationsziel – Wirtschaftlichkeit: effiziente Arzneimittelverschreibung
Die Effizienz eines Hausarztes wird anhand der Pro-Kopf-Ausgaben für die Verschreibung von Arzneimitteln gemessen. Jeder Hausarzt erhält vom vertraglich zugehörigen Gesundheitsdienstleister ein jährliches Gesamtbudget für Arzneimittelverschreibungen. Dieses Budget wird für jeden Hausarzt individuell ermittelt. Dabei sind die entstandenen Arzneimittelverschreibungskosten und die behandelte Patientenzahl mit der patientenzugehörigen Krankheitsschwere maßgeblich.
2. Organisationsziel – Versorgungsqualität: angemessene Arzneimittelverschreibung
Für die italienischen Gesundheitsdienstleister ist es entscheidend, dass die Population eine angemessene Arzneimittelversorgung erhält, die auf wissenschaftlichen Forschungsergebnissen basiert. Aus diesem Grund wird für einzelne Medikationen eine Empfehlung für die tägliche Dosierung ausgesprochen. Im Zuge der Studie wurde überprüft, inwieweit Hausärzte die vom Gesundheitsdienstleister empfohlene tägliche Dosis für ein Magenschutzmedikament einhalten.
Die oben genannten Organisationsziele sind neben anderen Organisationszielen des lokalen Gesundheitsdienstleisters von den vertraglich zugehörigen Hausärzten einzuhalten, um den Wert ihrer qualitätsorientierten Vergütung zu steigern und damit auch ihre individuelle Performance hinsichtlich Wirtschaftlichkeit und Versorgungsqualität. Die hausärztliche Einhaltung der beiden Organisationsziele wird in der Studie verwendet, um eine Aussage über die individuelle Performance der Hausärzte treffen zu können. Denn nur, wenn Hausärzte die Organisationsziele einhalten, kann eine effizientere und angemessenere Arzneimittelverschreibung erzielt werden.
Die Daten zur hausärztlichen Einhaltung der beiden Organisationsziele wurden vom lokalen Gesundheitsdienstleister bereitgestellt. Hierbei wurden die personenbezogenen Informationen der Hausärzte durch eine Codierung anonymisiert, sodass eine personale Rückverfolgung durch die Wissenschaftler nicht möglich war.
Im Jahr 2015 wurde ebenfalls ein Online-Fragebogen konstruiert, um Faktoren zu identifizieren, welche die individuelle Performance von Hausärzten beeinflussen können. Der Online-Fragebogen wurde an die zugehörigen Hausärzte des lokalen Gesundheitsdienstleisters verschickt. Insgesamt haben 55,6 % (n=128) Hausärzte aus der Region an der Umfrage teilgenommen.
Die Ergebnisse aus dem Online-Fragebogen und dem Datensatz wurden durch das entwickelte Codierungssystem zusammengeführt. Abschließend folgte eine statistische Auswertung.
Die zentralen Ergebnisse der Studie sind in der Tabelle dargestellt, welche sich auf die beobachteten Effekte aller betrachteten Hausärzte beziehen.
Studienergebnisse zu den beeinflussenden Faktoren für die individuelle Performance von Hausärzten.
Quelle: In Anlehnung an Cifalinó et al. 2020.
Wenn Hausärzte von Qualitätszielen überzeugt sind: positive Auswirkung auf individuelle Effizienz
Im Zuge der Studie konnte festgestellt werden, dass Hausärzte eine effizientere Arzneimittelverschreibung aufweisen (siehe 1. Organisationsziel), wenn sie vom Qualitätsziel des lokalen Gesundheitsdienstleisters überzeugt sind.
Begründen lässt sich dies mit der hausärztlichen Organisationsidentifikation. Nur wenn die Hausärzte sich mit der Zielsetzung des lokalen Gesundheitsdienstleisters identifizieren können, sind diese auch bereit, mehr Engagement in die Umsetzung der Qualitätsziele zu investieren.
Nutzung von Performancekennzahlen wirkt sich positiv auf individuelle Performance von Hausärzten aus
Mit der kontinuierlichen Nutzung von Performancekennzahlen haben Ärzte die Möglichkeit, ihre Leistungen regelmäßig zu überprüfen und bessere Entscheidungen zu treffen. Außerdem kann die Anwendung von Performancekennzahlen Ärzte dabei unterstützen, neben ihrer medizinischen Perspektive auch eine zusätzliche Managementperspektive in ihren beruflichen Alltag zu integrieren, was sich positiv auf die individuelle Performance auswirkt.
Mit der Studie lässt sich dieser Erklärungsansatz belegen. Hausärzte, die regelmäßig Performancekennzahlen verwendeten, um eine effizientere und angemessene Arzneimittelbewertung zu erzielen, hatten eine bessere individuelle Performance. Zudem konnte gezeigt werden, dass Hausärzte eine angemessenere Arzneimittelverschreibung aufzeigten (siehe 2. Organisationsziel), wenn sie vom Qualitätsziel des lokalen Gesundheitsdienstleisters überzeugt sind und gleichzeitig eine hohe Nutzung von Performancekennzahlen darlegten. Die Nutzung von Performancekennzahlen hat somit einen förderlichen Effekt für die individuelle Performance eines Hausarztes.
Wissensaustausch unter Hausärzten ist förderlich für Optimierung der individuellen Performance
Der Wissensaustausch unter Ärzten ist entscheidend. Durch diesen Erfahrungsaustausch entstehen Lerneffekte, welche die Verhaltensweisen von Ärzten weiter optimieren und damit auch ihre individuelle Performance.
Im Zuge der Studie konnte gezeigt werden, dass ein hausärztlicher Wissensaustausch in Kombination mit einer hohen Nutzung von Performancekennzahlen zu einer effizienteren und angemesseneren Arzneimittelversorgung führt. Auch der Wissensaustausch unter Hausärzten in Kombination mit einer hohen Überzeugung hinsichtlich der Wichtigkeit der Qualitätsziele des lokalen Gesundheitsdienstleisters hat einen positiven Effekt auf die Angemessenheit von Arzneimittelverschreibung. Der Wissensaustausch allein ist somit nicht ausreichend für eine gute individuelle Performance. Andere Faktoren, wie z.B. die Nutzung von Performancekennzahlen, sind entscheidend, um einen positiven Effekt für die individuelle Performance zu generieren.
Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?
Die Studienergebnisse zeigen, dass die alleinige Implementierung einer qualitätsorientierten Vergütung nicht ausreichend ist, um die Leistungserbringung im ambulanten Sektor hinsichtlich Wirtschaftlichkeit und Versorgungsqualität zu optimieren. Verschiedene Faktoren begünstigen im unterschiedlichen Ausmaß die Umsetzung von übergeordneten Qualitätszielen und damit auch die individuelle Performance von Ärzten in der ambulanten Versorgung (siehe Tabelle 1).
Aus diesem Grund ist es für die strategische Entscheidungsfindung in Gesundheitssystemen von Bedeutung, mehrere Faktoren gezielt zu fördern, um ausgewählte Qualitätsziele langfristig mit der Unterstützung von Ärzten umsetzen zu können. Dabei sollte nicht nur die Weiterentwicklung der individuellen Anwendung von Performancekennzahlen im Vordergrund stehen, sondern auch eine aktive Förderung zur Stärkung der hausärztlichen Identifikation mit Organisationszielen und -strategien. Dabei kann eine regelmäßige Koordination von thematisch orientierten Treffen zum Wissensaustausch unter Ärzten hilfreich sein.
Im internationalen Vergleich befindet sich Deutschland bei der Entwicklung einer qualitätsorientierten Vergütung im ambulanten Sektor noch in einem Anfangsstadium. Deutsche Ärzte können auf freiwilliger Basis ihre Patienten im Zuge von strukturierten Behandlungsprogrammen für chronische Erkrankungen (auch Disease-Management-Programme) begleiten und erhalten unter vorgegebenen Qualitätsrichtlinien eine zusätzliche Vergütung. Neben Italien haben bereits andere Länder, wie z.B. die USA, qualitätsorientierte Vergütungsmodelle im ambulanten Sektor fest integriert [5]. Im Anbetracht der vorliegenden Studienergebnisse von Cifalinó et al. [1] wird jedoch deutlich, dass die alleinige Festlegung und Vergütung von Qualitätszielen nicht ausreichend sind, um eine Leistungsoptimierung in der ambulanten Versorgung zu erreichen.
Die Implementierung einer qualitätsorientierten Vergütung ist nicht ausreichend, um die Leistungserbringung im ambulanten Sektor zu optimieren. Ärzte müssen sich mit den übergeordneten Qualitätszielen identifizieren können und Unterstützung erhalten, um die wirtschaftliche Perspektive langfristig in ihren beruflichen Alltag zu integrieren. Dabei kann die Organisation von thematisch orientierten Treffen zur Förderung des Wissensaustausches hilfreich sein.
- Cifalino, A., Mascia, D., and Vendramini, E.A., Goal importance, use of performance measures, and knowledge exchange: An empirical study on general practitioners‘ performance. Health Care Management Review, 2020. 45(2): p. 117-129.
- Mascia, D., Dandi, R., and Di Vincenzo, F., Professional networks and EBM use: A study of inter-physician interaction across levels of care. Health Policy, 2014. 118(1): p. 24-36.
- Kuusio, H., Heponiemi, T., Sinervo, T., and Elovainio, M., Organizational commitment among general practitioners: A cross-sectional study of the role of psychosocial factors. Scandinavian Journal of Primary Health Care, 2010. 28(2): p. 108-114.
- Young, G.J., Beckman, H., and Baker, E., Financial incentives, professional values and performance: A study of pay-for-performance in a professional organization. Journal of Organizational Behavior, 2012. 33(7): p. 964-983.
- Cashin, C., Chi, Y.-L., and Smith, P., Paying for performance in health care : implications for health system performance and accountability. 2014, New York: Open University Press.
Redaktion / Ines Niehaus
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