Ärztliche Prävention kann mehr!

Die allgemeine Gesundheitsuntersuchung aus Sicht des Internisten

Prof. Dr. Tilman Sauerbruch, Beauftragter der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin

Prävention findet derzeit kaum gesundheitspolitische Aufmerksamkeit. Umso bedeutsamer sind die Entscheidungen der Selbstverwaltung. Im Juli entschied der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), die „Allgemeine Gesundheitsuntersuchung“ leicht verändert als Regel-Check-up fortzuführen. Die internistischen Fachdisziplinen haben diese lange geplante Revision im Vorfeld aus ärztlicher Sicht diskutiert. Eine kritische Analyse zeigt nicht nur Licht und Schatten, sondern auch gesundheitspolitischen Handlungsbedarf. 

 

Die Entwicklung

In Deutschland haben gesetzlich Versicherte seit knapp 30 Jahren die Möglichkeit, sich ab dem 36. Lebensjahr alle zwei Jahre einer allgemeinen Gesundheitsuntersuchung („Check-up 35“) zu unterziehen. Ziel ist eine möglichst frühe, komplikationsarme Entdeckung von gut behandelbaren Erkrankungen und ihre Verhinderung. Die zu dieser Untersuchung berechtigten Ärzte (Allgemeinmediziner, Internisten und Ärzte ohne Gebietsbezeichnung) erheben eine Krankengeschichte (Anamnese), untersuchen die Patienten und veranlassen wenige Labortests (Cholesterin, Blutzucker und eine Urinstreifen-Test). Das Programm zielt vor allem auf die Verhinderung und frühe Behandlung von Herz-/Kreislauferkrankungen, zusammen mit Krebserkrankungen – die häufigsten Todesursachen in Deutschland. Für Krebserkrankungen der Brust, der Prostata, der Haut oder des Dickdarms weist unser Gesundheitssystem gesonderte Früherkennungsuntersuchungen aus.

 

Wichtige Ursachen

Ursache für die Entstehung von Herzkreislauferkrankungen ist die Anfälligkeit des Menschen für Arteriosklerose, die „Gefäßverkalkung“. Die Alterung der Gefäße beginnt schon in der dritten Lebensdekade. Unterschiedlich ausgeprägt kommt es durch Einlagerung von Lipiden in die Gefäßwand, anschließende Entzündung und Verkalkungen mit fortschreitendem Alter zur Neigung einer lokalen Gerinnsel-Bildung. Das kann zu Verschlüssen der Arterien führen. Folgen sind Herzinfarkt, Schlaganfall oder Durchblutungsstörungen an den Beinen. Eine individuelle Veranlagung und der Lebensstil können diesen Krankheitsprozess beschleunigen. Die wesentlichen beeinflussbaren Risikofaktoren sind Fehlernährung, Bewegungsmangel, Rauchen, Zuckerkrankheit und Bluthochdruck, Parameter, die teilweise verknüpft sind. Ihr Bedrohungspotenzial addiert sich. Fast jeder Dritte in Deutschland hat einen Bluthochdruck, knapp ein Viertel der Deutschen sind übergewichtig und knapp 10 Prozent sind zuckerkrank.

 

Der politische Wille

Der Gesetzgeber verspricht sich, durch rechtzeitige Entdeckung der Risikofaktoren, Veränderung des Lebensstils oder die Gabe von Medikamenten Krankheiten und ihre Folgezustände zu verhindern. Derzeit geben die gesetzlichen Krankenkassen etwa 300 Millionen Euro für den „Check“ aus. Neben der Check-up-35-Untersuchung und den Angeboten zur Krebsprävention existieren in Deutschland noch die gezielte Suche nach monogenetisch bedingten Stoffwechselerkrankungen (Neugeborenen-Screening im Rahmen der U2-Untersuchung) und die im Kalender der ständigen Impfkommission (STIKO) festgehalten Impfungen, als präventive Maßnahmen.

 

Revision im G-BA – worauf kommt es an?

Nachdem Struktur und Inhalt der allgemeinen Gesundheitsuntersuchung in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht verändert wurden, lag das Programm im G-BA, dem obersten Gremium der Leistungserbringer und Kostenträger, zur Überarbeitung vor. Am 19. Juli 2018 wurde darüber entschieden. Die wesentlichen Änderungen sind eine zusätzlich einmalige Untersuchung ab dem 18. und 35. Lebensjahr. In der revidierten Fassung wurde der spezifische Hinweis auf Herz-/Kreislauferkrankungen, Nierenerkrankungen und Diabetes fallengelassen. Der G-BA räumt damit ein, dass es sinnvoll ist, auch nach anderen, wenn auch selteneren behandelbaren Krankheiten zu fahnden. Dreh- und Angelpunkt ist eine gute Krankengeschichte (Anamnese). Hinzu kommt die körperliche Untersuchung, vor allem die Erfassung von Gewicht, Größe und den Blutdruck.

 

Die Krankengeschichte – am besten standardisiert

Regelmäßiges Rauchen verkürzt die Lebenserwartung im Mittel um 10 Jahre. Die Rauchgewohnheiten lassen sich gut durch standardisierte Tests abfragen. Auch für den Diabetes mellitus gibt es einen gut evaluierten Selbsttest. Gezielte strukturierte Fragen sollten daher unbedingt in eine allgemeine Gesundheitsuntersuchung einbezogen werden. Gut behandelbare, seltenere Erkrankungen können durch Erfragen der Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe oder das Beachten seltener Symptome festgemacht werden. Infektionserkrankungen haben in Deutschland deutlich abgenommen. Dennoch müssen wir bei uns Risikogruppen für das Vorliegen einer chronischen durch Virusinfektionen hervorgerufenen Lebererkrankungen oder auch die Infektion mit dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV) beachten. Hier ist die gezielte Krankengeschichte entscheidend: Fragen nach Risiken für sexuell übertragbare Krankheiten, nach der Herkunft aus Ländern mit einem hohen Vorkommen infektiöser Lebererkrankungen oder nach Zeichen eines defekten Immunsystems erlauben sinnvolle weitere Untersuchungen. Mit Blick auf Lebererkrankungen sollten auch Hinweise auf einen erhöhten Alkoholkonsum abgefragt werden. Strukturierte Tests (z. B. der AUDIT-Fragebogen) sind hier hilfreich. Atemnot oder Husten (auch ohne Zigarettenkonsum) weisen auf mögliche Lungenerkrankungen und Veränderung des Stuhlgangs auf eine Erkrankung des Magen-Darmtraktes. All dies wäre durch die Implementierung eines standardisierten und strukturierten Katalogs für die Krankengeschichte erreichbar. Davon hat der G-BA aber leider abgesehen.

Auch hat sich der G-BA nicht dazu entschlossen, eine valide Untersuchung für Nierenerkrankungen zu vergüten. Die in dem jetzigen Programm zugelassenen Untersuchungen des Urins mit Hilfe eines Streifentests sind ungenügend. Blutuntersuchungen zur Bestimmung der Filtrationsleistung der Niere neben einem empfindlicheren Test auf Eiweiß im Urin sind überlegen, um Menschen zu finden, bei denen es lohnt, das Fortschreiten einer Nierenerkrankung aufzuhalten.

 

Limitationen und Chancen für Check-up Programme

Die bisherigen Analysen verschiedener Check-up Programme in unterschiedlichen Ländern kommen zu der ernüchternden Feststellung, dass ihre Auswirkung auf gesicherte Endpunkte, wie Schlaganfall, Herzinfarkt oder Tod begrenzt ist. Das veranlasste einige Länder, auf die Vergütung allgemeiner Gesundheitsuntersuchungen dieser Art zu verzichten. Dennoch sprechen sich Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin dafür aus, ein solches Programm beizubehalten, da es ermöglicht, unabhängig von Beschwerden nach Krankheiten zu fahnden, die Patienten zu beraten und – falls notwendig –zu therapieren. Eine langfristige Arzt-/Patientenbeziehung kann aufgebaut werden. Das sind weiche Parameter. Gute systematische Erfassungen über den Mehrwert regelmäßiger Kontakte der Patienten mit ihrer Hausärztin oder ihrem Hausarzt hinsichtlich einer positiven Beeinflussung des Lebensstils oder früherer Entdeckung behandelbarer Krankheiten liegen nicht vor. Diese Frage könnte wissenschaftlich weiter untersucht werden. Es ist daher zu begrüßen, dass der G-BA sich festgelegt hat, das jetzige Programm wissenschaftlich begleiten zu lassen.

 

Gesundheitspolitischer Handlungsbedarf

Eine Reihe weiterer Punkte bleiben offen: die Definition neuer „Biomarker“, einschließlich genetischer Tests, die es erlauben Krankheiten früh zu entdecken, die Beziehung zwischen früher Diagnose und weiterem Krankheitsverlauf, die Art der Verknüpfung zwischen Diagnose und sinnvoller Therapie oder die bisher relativ arbiträr gewählte zeitliche Staffelung allgemeiner Gesundheitsuntersuchungen.

Diverse Nahrungsbestandteile sowie zuckerreiche oder alkoholische Getränke, auch Nikotin, induzieren in bestimmten Gehirnarealen eine Belohnungsschleife, die eine zwanghafte Wiederholung hervorruft und auch das physiologische Sättigungsgefühl unterbindet. So ein „unersättliches“ Belohnungssystem ist schwer zu durchbrechen und erklärt, warum individuelle Ansätze zur Behandlung des Übergewichts als wesentlicher Ursache für eine Zuckerkrankheit oder Ansätze zur Behandlung des Nikotinkonsums und des übermäßigen Alkoholkonsums schwierig und häufig vergeblich sind. Viel spricht dafür, dass gesundheitspolitische Maßnahmen sehr viel effektiver als individuelle Maßnahmen sind. Beim Rauchen reduziert jede Verdopplung des Preises den Verbrauch von Zigaretten um etwa ein Drittel. Entscheidend ist hierbei der Effekt auf junge Menschen durch einen erschwerten Einstieg. In Großbritannien reduzierten die Hersteller nach der kürzlich eingeführten Zuckersteuer prompt den Zuckergehalt von Limonaden. In den USA halbierte sich während der Prohibition in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Zahl der tödlichen Leberkrankungen.

 

Neue Möglichkeiten und das Arzt-Patienten-Verhältnis

Soweit wir wissen, nimmt nur etwa die Hälfte der Berechtigten die Check-up Untersuchung wahr. Vor allem ältere besser Gestellte suchen die Ärzte auf. Wie kann man jüngere oder sozial schwächer gestellte Menschen gewinnen? Hier sollte die Möglichkeit sozialer Netzwerke studiert werden. Interaktive webbasierte Plattformen und Apps steuern schon jetzt das Gesundheitsverhalten vieler, gerade junger Menschen.  In der IT-Branche werden gigantische gesundheitsrelevante Datenmengen gespeichert. Sinnvoll analysiert und angewandt, könnten sie neue Wege der Prävention öffnen, immer unter der Prämisse des adäquaten Datenschutzes. Dennoch: Ein langfristiges vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis ist sicher nicht überholt. Gerade hier öffnet sich die Möglichkeit, den Menschen auf die Eigenverantwortlichkeit für seine Gesundheit hinzuweisen. Dies spricht für den jetzt entschiedenen Erhalt der Allgemeinen Gesundheitsuntersuchung. Eine wissenschaftliche Begleitung ist vorgesehen. Hoffen wir, dass zukunftsorientierte Konzepte dabei entstehen.


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